STRASSER UND KEIN ENDE
Gastbeitrag von Jürgen Grande (Minimal Horsemanship) 06/2024
Nein, nicht schon wieder, höre ich jetzt einige stöhnen. Das Thema ist aber noch lange nicht durch, denn diese Hufmethode hat weltweit einen guten Ruf und genügend Anhänger. In Europa ist es vorrangig der deutschsprachige Raum, wo derzeit ca. 80 zertifizierte SHP® (Strasser Hoofcare Professional) tätig sind plus ein gutes Dutzend in Ausbildung. Straßer ist kein Forschungsinstitut, sondern genau genommen ein Franchisingunternehmen. Jede(r) SHP® muss nach strengen Kriterien arbeiten und dafür den Nachweis erbringen, da er / sie sonst die Lizenz verlöre. Das ist wohl einer der Gründe, warum es zusätzlich immer mehr Barhufpfleger gibt, die nach wie vor nach Straßer praktizieren, dies aber nicht explizit, da sie das entweder nicht dürfen, weil ihnen die Zulassung fehlt, oder weil sie das schlicht nicht wollen, da ihnen die Erwähnung der Erfinderin zu belastet erscheint. Manche meinen sogar, das alte System überwunden oder erweitert zu haben, und machen unter neuem Firmennamen weiter, wobei häufig die Abstammung immer noch deutlich erkennbar ist.
So gesehen ist die Straßer-Methode also keine aussterbende Art, sondern floriert weiterhin, wenn auch zusätzlich in evolutionären Seitenzweigen. Es lohnt sich also nach wie vor, sich darüber Gedanken zu machen, insbesondere wenn das eigene Pferd barhuf gehen soll.
Frau Straßer ist unbestritten eine der Pioniere, wenn es um die richtige Haltung von Pferden geht sowie um die Ablehung von Beschlag und Gebissen. Da hat sie viel geleistet, und in den meisten Ansichten gehe ich mit ihr konform.
Barhuf ist aber bekanntlich mehr als nur die Eisen wegzulassen. Und hier gab und gibt es die meisten Auseinandersetzungen oder gar Zoff, wenn es zu dem Punkt kommt, w i e Barhufe richtig behandelt werden sollten, damit sie gesund und funktionstüchtig werden und bleiben.
Viel ist bislang gestritten worden, wobei auch einiges an Propaganda und Denunzierung dabei war und ist. Die einzige Möglichkeit, das Thema angemessen zu behandeln, ist die Hinzunahme von Wissenschaft, klarer Datenlage, der darauf aufbauenden Argumentation sowie ein Schuss Horse Sense.
Ich hoffe, hiermit ein wenig beitragen zu können.
Ich schicke voraus: Die Art und Weise, wie Frau Straßer an Hufpflege herangeht, findet nicht meinen Beifall und kann daher auch nicht Grundlage meines eigenen Vorgehens sein.
Trotzdem möchte ich die Sachlage ein wenig relativieren und Frau Straßer gegenüber Gerechtigkeit üben. Ich beziehe mich dabei auf einen 2006 veröffentlichten Artikel von Yvonne Welz, deren Mann James 2000/2001 als einer der ersten in den USA ein Straßer-Zertifikat erwarb. Beide kennen Straßer persönlich, sind unvoreingenommen und kompetent. Frau Welz unterscheidet den “Strasser Clinic Trim“ und “Strasser Trimming Regular Horses“. Der Schwerpunkt liegt jedoch ganz offenbar bei ersterem, und der zweijährige Zertifizierungskurs sei „danach ausgerichtet, dessen teilnehmende Studenten darauf vorzubereiten, pathologische Hufe zu rehabilitieren“, wobei „extreme Situationen extreme Maßnahmen erfordern können“ [Übersetzung von mir]. Liegt hier der Schlüssel dazu, warum die Straßer-Methode in Verruf geraten ist? Das was hoffnungslosen Fällen die Euthanasie erspart hat, allerdings zugegebenermaßen mit invasiven und eventuell schmerzhaften Eingriffen in den Huf, wurde wohl verallgemeinert und als die alleinige Straßer-Hufmethode deklariert. Es gebe jedoch genügend Leute, die bezeugen könnten, dass Frau Straßer auch einen recht zurückhaltenden, konservativen Umgang mit Hufen pflege, sofern diese nicht als pathologisch eingestuft würden.
Dennoch: “Dr. Strasser ist eine Perfektionistin, und sie betrachtet jede Unvollkommenheit am Huf als das Hauptproblem, das man mit Zwang beheben müsse … Die meisten Pferde in Gefangenschaft befinden sich [jedoch vielmehr; JG] irgendwo im Bereich zwischen gesund und krankhaft – und hier ist der Punkt, an dem der Strasser-Trim seine größte Kontroverse in all den Jahren hervorbrachte“ [Übersetzung von mir].
KRITERIEN
„Viele Krankheiten und Probleme sind auf Deformationen, Anomalien und Disfunktion der Hufe zurückzuführen.“ [Homepage Straßer]
Die ergiebigsten Fragen, die man also stellen sollte, sind demnach:
Wann ist bei Straßer ein Huf unvollkommen?
Wie wirkt sich diese Unvollkomenheit aus?
Wie lässt sich diese Unvollkommenheit beheben?
Welche Quelle ich hier für meine Einschätzung heranziehen würde, war anfangs nicht ganz klar, und ich wollte jetzt nicht einfach die einschlägigen Veröffentlichungen der Straßer-Gegner wiederkäuen, sondern meine Sicht der Dinge ins Spiel bringen, auf Grundlage eigener ungulologischer Investigationen in Theorie und Praxis. Ich habe mich letztendlich für Frau Straßers offizielle Homepage entschieden, da dort die relevanten Eckpunkte in gestraffter, aber dennoch aussagekräftiger Form erkennbar sind. https://hufgesundheit-strasser.com/
Dort finden wir neben textlichen Informationen ein Video mit Frau Straßer, in dem sie anhand von 13 Punkten „im Äther kursierenden abenteuerlichen Behauptungen“ Paroli bieten möchte, indem sie „kurz und bündig darlegt“, worum es bei der von ihr propagierten Art der Hufbearbeitung gehe.
Ich habe nach reiflicher Sichtung des Materials die kritikwürdigsten Punkte herausgesucht und neu geordnet. Meine Ausführungen folgen den prinizipiellen Aussagen.
Natur
Straßer äußert zunächst eine durchaus vernünftige Ansicht: Hufbearbeitung sei nur nötig, wenn die Pferde nicht in ihrem arttypischen Biotop lebten, und demnach die Hufe nicht von der Natur „bearbeitet“ würden.
So weit, so gut. Sie geht aber noch einen großen Schritt weiter, und hier kommt der erste Widerspruch: „Für die artgerechte und damit gesunde Haltung von Pferden und die Bearbeitung ihrer Hufe orientiert sich die Straßer-Methode deshalb an den Grundlagen der Natur und strebt das Ziel an, einen ebenso leistungsstarken und funktionalen Huf zu erhalten, wie er bei Wildpferden selbstverständlich ist.“ [Hervorhebungen von mir]
Es gebe dabei so etwas wie einen allein gültigen Naturhuf mit einer optimalen Hufform, die Gesundheit und Funktionalität auch bei „Hauspferden“gewährleiste. Das geht aus allen weiteren Äußerungen Straßers sowie aus den Vorschriften der Hufbearbeitung hervor, wie sie von zertifizierten Hufpflegern dargestellt sind.
Diese Dogmatik erinnert mich an den amerikanischen Barhufspezialisten Jaime Jackson, der ausschließlich die Hufe der wild lebenden Pferde im Great Basin der USA als Vorbild gelten lässt. Jackson und Straßer hatten Ende der 1990er Jahre engen, aber kurzen Kontakt, der aber bald radikal abgebrochen wurde, weil Jackson mit der Hufmethodik Straßers offenbar dann doch nicht einverstanden war. Das aber nur nebenbei.
Wenden wir uns jedoch den Feldstudien anderer zu, dann führen uns deren Ergebnisse zu abweichenden Schlussfolgerungen.
In letzter Zeit sind hier insbesondere die Untersuchungen der beiden Australier Dr. Brian Hampson und Prof. emeritus Dr. Chris Pollitt, im Rahmen des Australian Brumby Research Unit, sehr aufschlussreich. Brumbies sind im Down Under das Gegenstück zu den Mustangs Nordamerikas.
Sie untersuchten Herden wildlebender Pferde in verschiedenen klimatischen Habitaten und fanden dabei jeweils typische, funktional richtige Anpassungen der Hufe an das Biotop. Die Hufform ist also davon abhängig, ob das Pferd in überwiegend trockenen oder feuchten Gegenden lebt, ob der Untergrund eher fest oder eher nachgiebig ist, wie üppig oder karg das Nahrungsangebot ist, was ja die Länge der Tageswegstrecke bestimmt, und einiges mehr. Was Hampson und Pollitt zudem erkannten, ist die enorme Anpassungs- und Umgestaltungsfähigkeit von Hufen, sobald Pferde in ein anderes Habitat wechseln, welches sich deutlich vom vorhergehenden unterscheidet.
Wir kennen diese Phänomen übrigens auch bei uns, ohne andauernd mit dem eigenen Pferd umziehen zu müssen: Es gibt einen typischen „Sommerhuf“ (während der tendenziell eher trockenen Sommermonate) und einen typischen „Winterhuf“ (während der tendenziell eher feuchten Wintermonate) sowie die Zwischenstadien, je nachdem, welche Witterung mittelfristig gerade vorherrscht. Voraussetzung ist dabei allerdings, dass das Pferd gänzlich oder überwiegend im Offenstall lebt. Der Wechsel des Huftyps im Laufe der Jahreszeiten ist für den versierten Hufpfleger durchaus von Bedeutung, da er / sie die Herangehensweise jeweils mehr oder weniger variieren muss.
Doch zurück zu Straßer.
Ihrer Meinung nach formt die Natur die Hufe optimal, ohne menschliches Zutun. Wenn allerdings, wie wir aus Erfahrung und durch Feldforschungen wissen, dabei sehr unterschiedliche, aber dennoch funktionale Hufformen entstehen: Warum sollte man dann von einer einzigen ausgehen, einer alleinigen optimalen Hufform?
Auch Straßer hat diesen Widerspruch immerhin erahnt, löst ihn aber anders, indem sie „rassetypische“ Hufe ins „richtige“ Habitat setzt. Der „Naturhuf“ in seiner „optimalen Form“ bleibt davon unberührt. Doch wie sieht der bei Straßer aus?
Winkel
Der optimale Huf habe exakte Winkel, die eingehalten werden müssten, um Hufbearbeitung korrekt ausführen zu können. Gemeint sind die drei äußeren Standardwinkel der Hufkapsel seitlich gesehen: dorsopalmarer / dorsoplantarer Winkel (zwischen Sohlenebene und vorderer Hufwand), dorsokoronarer Winkel (zwischen vorderer Hufwand und Kronenrand) und koronarvolarer Winkel (zwischen Kronenrand und kaudaler Auflagefläche).
„Kleinste Veränderungen des Hufwinkels“ – so wörtlich im Video – seien unphysiologisch und würden zu Folgeschäden im übrigen Körper des Pferdes führen können, was meistens auch geschehe.
Abrupte Winkelveränderungen an sich, vor allem größere haben tatsächlich diesen Effekt.
Aber das meint Straßer nicht, sondern ihr geht es vielmehr um die exakte Einhaltung der von ihr propagierten physiologischen Winkelmaße.
Dem widersprechen eindeutig weltweite Beobachtungen an wildlebenden Pferden und an Hauspferden in guter Offenstallhaltung.
Nehmen wir als Beispiel Jaime Jackson, der in den 1980er Jahren die Mustangs im Great Basin musterte und die von der Behörde für Landesentwicklung eingefangenen Individuen untersuchte. Die Anzahl der Beobachtungen war groß genug, um eine aussagekräftige Statistik zu erstellen. Jackson fand keine einheitlichen Winkelmaße. Vielmehr verteilten sich diese auf einer gleichmäßigen Gauß’schen Verteilungskurve, wobei die meisten Hufe um einen typischen Wert von 54° (dorsopalmar) und 58° (dorsoplantar) herum lagen. Der bei Straßer mit 45° dorsopalmar optimal propagierte Vorderhufwinkel rangierte bei Jackson weit abgeschlagen als tendenziell unphysiologisch.
In Wirklichkeit gibt es tatsächlich eine breite Streuung physiologischer Winkelmaße, je nach dem individuellen Pferd, und sogar jeder einzelne Huf am selben Pferd kann zudem seine für ihn typischen Maße haben, die sich im Laufe des Lebens oder auch, wie gesehen, im Laufe der Jahreszeiten ändern können. Zu behaupten, es gebe einheitliche, exakte Winkelmaße, widerspricht den natürlichen Gegebenheiten.
Anders gesagt: Eine „korrekte“ Ausführung aufgrund exakt vorgegebener Winkelmaße wird nur in seltenen Fällen dem individuellen Huf gerecht und kann auch schädlich sein.
P3 bodenparallel
Das Hufbein (international als „Phalanx 3“, P3 bezeichnet) ist der unterste Knochen im Pferdebein. Er ist in seiner Gesamtheit von der Hufkapsel (Wand und Sohle) sowie dem sogenannten Aufhängungsapparat umgeben. Die Form ähnelt seitlich gesehen einem Keil, von unten gesehen einem Viertelmond. Die vordere obere Spitze ist der Ansatzpunkt der Strecksehne. Da P3 mittig eine Aufwölbung hat, um der tiefen Beugesehne Platz zu bieten, die dort ansetzt, ist nur der viertelmondförmige Bogen die Fläche, die am untersten Ende tatsächlich in Kontakt mit den darunterliegenden Strukturen und letztlich, mittelbar auch mit dem Boden steht.
Über P3 schließen sich an P2 (Kronbein) und P1 (Fesselbein). Proximal von P1 befindet sich das Fesselgelenk, dem das Röhrbein (unterer Metacarpus) folgt mit den zwei Griffelbeinen (Rudimente aus der Zeit, als das Pferd noch dreizehig war). Distal des Karpalgelenks (vorne) und des Tarsalgelenks (hinten), welche beide beim Menschen anatomisch dem Handgelenk entsprechen, gibt es beim Pferd keine Muskeln.
Diese Beschreibung ist jedem ernsthaften Pferdebesitzer zwar geläufig, aber für Leute, die sich nicht ganz sicher sind, habe ich das hier nochmal dargestellt.
Die interessante Frage ist, wie P3 innerhalb der Hufkapsel platziert ist, speziell die Frage, ob die untere (viertelmondförmige) Fläche parallel zum Boden steht (oder stehen soll) oder nicht. Anfangs gingen die meisten Vertreter der modernen Barhufbewegung von einer natürlichen Parallelität aus. Heute gilt diese Ansicht als überholt, wogegen Straßer sie bis heute explizit beibehält und in den Vordergrund stellt.
Auch hier sind es empirische Daten, die nahelegen, dass Bodenparallelität von P3 wohl eher eine unphysiologische Ausnahme ist. P3 zeigt in gesunden, natürlichen Hufen üblicherweise einen kaudalen Anstieg von 3° bis 8° im Vergleich zum planen, waagrechten Untergrund. Anders gesagt: P3 erscheint seitlich gesehen hinten leicht angehoben. Die einzige Situation, bei der P3 zeitlich begrenzt annähernd bodenparallel wird, ist in Bewegung bei der Hauptbelastungsphase nach der physiologisch korrekten Trachtenlandung, sobald der Huf die vollständige Last aufnimmt und kurz davor ist, vom Boden wieder abzustoßen. Das ist jedoch etwas anderes, als P3 grundsätzlich und unverrückbar parallel zum Boden zu verorten.
Hufbearbeitungen, die darauf abzielen, P3 im Grundzustand bodenparallel auszurichten, sind ganz offenbar auf Dauer unphysiologisch.
Eimermodell
Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich an einen Aprilscherz.
Ich möchte die Einzelheiten dieser Bastelarbeit hier nicht näher darstellen, die lassen sich auf der Straßer-Homepage textlich und bildlich nachvollziehen.
Mir fällt hier nur eine einzige Frage dazu ein: Wie um alles in der Welt kann man auf die Idee kommen, so etwas Kompaktes und Komplexes wie den Pferdehuf mittels eines willkürlich geformten Hohlkörpers, der aus dünnem Plastik sowie einem gefalteten Stück Papier als unterem Abschluss besteht, nicht nur schematisch darzustellen, sondern auch noch zu versuchen, anhand physischer Einwirkung (Drücken mit der Hand) an diesem Modell biomechanische Phänomene zu erklären und zu beweisen?
Hufmechanismus
Der Hufmechanismus (oder auch Hufmechanik) ist ein natürlicher Vorgang. Es handelt sich um die Verformung des Hufes, und damit vordergründig der Hufkapsel, bei Bewegung des Pferdes. Auch hier so weit so gut, denn es ist naheliegend, dass eine flexible Substanz wie das Horn unter Last in irgendeiner Weise nachgibt.
Auf dem Eimermodell aufbauend, geht Straßer ihrerseits von einer typischen Verformung der Hufkapsel bei Bewegung aus, die sie als „Spreizung“ und „Pumpbewegung“ beschreibt. Dabei weite sich der Huf im Trachtenbereich deutlich. Bei Bewegung erzeugten rhythmische Weitung und Verengung dabei einen Pumpeffekt, der den Transport des Blutes unterstütze und somit auch für die ausreichende Versorgung des gesunden Hufs beitrage.
Unterlegt wird diese These im Video durch Animationen (vulgo Zeichentrickfilme). Jetzt haben jedoch solche bewegten Graphiken keine dokumentarischen Eigenschaften, sondern sind gänzlich der Phantasie ihrer Schöpfer unterworfen. Wenn also die These bildlich unterstützt werden soll, dass eine deutliche Spreizung bei Belastung zu sehen sei, dann wird die Animation diesem Ansinnen selbstverständlich folgen.
Heutzutage würde eine KI diese Aufgabe wohl noch um einiges besser realisieren, wenn man sie entsprechend fütterte.
Was wir bei Straßer im Zeichentrick suggeriert bekommen, entspricht ganz offenbar nicht den wirklichen Verhältnissen. Einen aussagekräftigen Beitrag finden wir bei Konstanze Rasch von der DHG mit dem Titel „Der Hufmechanismus – Die Quintessenz der Biomechanik des Pferdehufes?“ (2015). Dort erhält man auch eine tabellarische Übersicht von mehr als 30 Untersuchungsergebnissen von Hufschmieden und Veterinären seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Gesamtbild ist alles andere als einheitlich und erweckt den Eindruck, dass es erstens keinen Standardhufmechanismus gibt und dass die Deformationen der Hufkapsel bei gesunden Hufen bei weitem nicht so groß sind, um dabei gleich von „Spreizung“ und „Pumpbewegung“ zu sprechen.
Dieser empirische Hinweis lässt sich mit einer Portion gesunden Menschenverstandes ergänzen. Eine derartige Ausspreizung der Hufkapsel mit gleichzeitiger Abflachung der Sohle (mit ungekehrtem Vorgang bei Entlastung), wie sie bei Straßer dargestellt wird, würde den Hornstrukturen einiges abverlangen, was sie im Dauereinsatz wohl nicht leisten könnten.
Dazu eine Zwischenbemerkung zu verwendeten Begriffen. Flexibilität und Elastizität sind zwei sehr verschiedene Dinge. Flexibilität bedeutet, dass man einen Gegenstand zwar biegen kann, dieser jedoch im wesentlichen seine Form und Ausdehnung beibehält, wie beispielsweise der Schützenbogen. Elastizität bedeutet, dass man zusätzlich die Ausdehnung eines Gegenstandes variieren kann. Dazu gehören beispielsweise das Gummiband, der Pizzateig oder der Luftballon.
Hufkapseln sind zwar flexibel aber zum Glück kaum elastisch. Letztere Eigenschaft wäre jedoch Vorausetzung für die Richtigkeit des Hufmechanismus nach Straßer.
Kommen wir zum Thema Pumpbewegung und Blutpumpe.
„Durchblutung des Hufes ist umso besser, je mehr, also je größer die Zahl der Hufkapselspreizungen sind, weil nur der Unterschied zwischen Hufkapselweite und Hufkapselenge führen zum Umtrieb des Blutes durch die Huflederhaut.“
[Wörtlich im Video; Hervorhebungen von mir; begleitet wird diese Aussage durch die Einblendung der Animation eines Hufes von hinten mit deutlichen Spreizungen bei Belastung]
„Die Durchblutung der Huflederhaut hängt also von der Schrittmenge ab und auch noch von der Härte des Aufpralls. Also je stärker der Aufprall ist, umso stärker spreizt sich die Hufkapsel, das heißt umso größer wird der Zwischenraum zwischen dem harten Knochen, der seine Form nicht verändert, und der harten [!] Hufkapsel. Und je größer der Zwischenraum ist, umso mehr Blut kann ein- und ausströmen.“
[Hervorhebungen von mir; auch hier wird die Aussage durch eine Einblendung gestützt: Kadaverhuf in seitlicher Ansicht, Quartierbereich der Kapsel entfernt mit sichtbarem Stratum internum, gewaltsames Nachhintenbiegen der distalen Gliedmaße]
Diese Auffassung wurde (und wird nach wie vor) übernommen und überhöht von Teilen der Barhufbewegung als die „vier zusätzlichen Herzen“.
Es gibt ein paar gewichtige Gründe, warum das so nicht funktioniert.
Was mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit beiseite gelassen wird: Der eigentliche Antrieb des Blutkreislaufs ist immer noch das Herz an sich. Und da die Herzfrequenz sich nicht nach der „Schrittmenge“ richtet, sondern danach, was der gesamte Pferdekörper gerade an arteriellem Blut benötigt, ist die Vorstellung vom vermehrt einströmenden Blut bei „Spreizung“ via größerem Zwischenraum wohl eher Wunschdenken, denn das hätte bei gleichbleibender Blutmenge eine periodisch temporäre Verengung der zuführenden Arterien und dadurch verlangsamten Blutzufluss zur Folge, also ein Szenario, das dem postulierten Vorgang klar widerspricht.
Was ebenfalls bei Straßer nicht zur Sprache kommt: Blut ist kein Newton’sches Fluid. Und selbst wenn es das wäre, würde es, mutatis mutandis, dem Gesetz nach Hagen-Poiseuille unterworfen sein, das sich mit dem Strömungswiderstand (zum Beispiel von Wasser) in Abhängigkeit vom Durchmesser des Leitungsrohres beschäftigt. Vereinfacht gesagt: Je dünner ein Rohr, umso langsamer der Fluß darin, und zwar exponentiell.
Aber wie gesagt, Blut ist keine Newton’sche Flüssigkeit, es handelt sich vielmehr um eine viskoelastische Suspension. Dies kann in engen Verhältnissen (zum Beispiel in Kapillaren) unter Einwirkung von Stoßkräften dazu führen, dass der Blutfluss zum Stillstand kommt und das Blut kurzzeitig die Eigenschaften eines elastischen Festkörpers annimmt. Bei gesteigerter Härte des Aufpralls müsste dieser Effekt verstärkt zum Vorschein kommen. Das bestätigen übrigens die Ergebnisse von Robert Bowker, der von einer hämodynamischen Stoßdämpfungswirkung bei der Auffußung ausgeht (Bowker et al. passim). Ähnliches haben englische Veterinäre Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert, allerdings mittels dem etwas unpassenden Vergleich mit einem P3 umgebenden Wasserbett (Jackson passim).
Meiner Ansicht nach kommt, je härter der Aufprall, dann umso mehr, kurzzeitig (es handelt sich wohl um Millisekunden), eine Art Gummimatteneffekt in den engen Gefäßen zustande, der anteilsmäßig zur Stoßdämpfung dient. Hier gibt es in der Literatur nur wenig zu lesen, und das könnte vielleicht ein lohnendes Sujet weiterer Forschung sein.
Beides, das Fehlen des Hufmechanismus, wie ihn Straßer sich vorstellt, sowie das reale Verhalten von Blut im vaskulären System des Hufes, lässt das Bild der sich spreizenden und zusammenziehenden Blutpumpe einigermaßen befremdlich erscheinen.
Nicht zu vergessen, dass ein allzuschneller Bluttransport, wie er bei einem veritablen Pumpvorgang vorläge, den Stoffwechsel im Huf beeinträchtigen würde, was die Natur mit Sicherheit nicht so vorgesehen hat, denn auch der Liefervorgang von Nährstoffen ins Gewebe als auch der Abtransport verbrauchter Güter benötigt ein Mindestmaß an Zeit und Akkuratesse. Ein zu schnelles Durchfließen, vergleichbar dem reißenden Bach beim Starkregen, wäre kontraproduktiv.
Der Bluttransport im Huf, und speziell vom Huf weg Richtung Herz, ist bei Betrachtung der derzeit aktuellen Fachliteratur offenbar noch nicht abschließend geklärt. Es gibt auch immer wieder Überraschungen, wie zum Beispiel die Entdeckung, dass die Venen im distalen Bereich der Pferdegliedmaßen pulsieren, also aktiv sind (Bowker et al. 2012). Es bleibt also noch einiges zu erforschen, bis es befriedigende Erkenntnisse darüber gibt.
Das Straßermodell des Hufmechanismus wird wahrscheinlich nicht dazu gehören.
Hufpräparate
Wörtlich im Video: „Um Hufgesundheit zu garantieren … , müssen wir mit der Anatomie und Physik der Hufe bestens vertraut sein. Deshalb verwenden wir während der Ausbildung prinzipiell sehr viel Zeit auf die Sektion von toten Hufen und auf die Beurteilung von Schnitten toter Pferdefüße. Damit wird das Verständnis für die Zusammenhänge von Hufform und Bewegungsmöglichkeit gefördert und gefestigt.“
[Hervorhebungen von mir]
Die Sektion von toten Hufpräparaten (meistens die untere Gliedmaße von Karpal- oder Tarsalgelenk abwärts) kann allerhöchstens den Zweck erfüllen, anatomische Kenntnisse zu erlangen oder zu verbessern, ist jedoch kaum dazu geeignet, die Vorgänge bei der Bewegung beim lebendigen Pferd zu verstehen.
Es geht schon los, dass die Präparate so gut wie nie frisch auf den Tisch kommen, sondern vorher eingefroren waren, was bekanntlich histologische Veränderungen hervorruft. Dann sind die Sektionsobjekte blutleer, und selbst wenn man sie nachträglich mit einer Flüssigkeit füllt, dann sind sie nach oben hin geöffnet, haben keinen Kreislauf und die taktilen Steuerungssignale der Mechanorezeptoren an das vaskuläre System fehlen ebenfalls.
Kurz gesagt: Tote Präparate sind und bleiben tot. Da hilft auch nicht das Einspannen des Studienobjekts in irgendwelche hydraulische Vorrichtungen, die die Gliedmaße stauchen, stoßen und biegen. Für das Verständnis, wie die Verhältnisse in vivo sind, ist diese selektive Leichenschau einfach ungeeignet. Bei der Ausbildung den Schwerpunkt hier zu setzen ist, wie wenn ich eine Fußballmannschaft am Kickertisch trainieren ließe.
Schlechter Huf
Hufanomalien können Krankheiten im gesamten Pferdekörper hervorrufen, sagt Straßer:
„Wenn wir Pferde halten, müssen wir dafür sorgen, dass die Anatomie der Gliedmaßen, mit ihren Sehnen und Bändern, in ihrer Balance nicht durch Formveränderungen der Hufkapsel gestört wird. Es ist uns bewusst, dass die kleinste Veränderung des Hufwinkels oder eine schmerzhafte Stelle im Huf dazu führt, dass die Spannungsverhältnisse der Sehnen verändert wird und damit die Gliedmaßen, die Gelenke in eine andere Position kommen, die mit Muskelkraft und Muskelarbeit ausgeglichen, ausgehalten werden muss, und das ist unphysiologisch. Das heißt, es muss ein vergrößerter Energieaufwand betrieben werden, um so eine Situation zu meistern. Und das führt zu Folgeschäden im übrigen Körper des Pferdes oder kann zu Folgeschäden führen, und tut das auch in den meisten Fällen.“ [Hervorhebungen von mir]
Selbstverständlich ist es richtig, dass ein Pferd auf schlechten Hufen nicht gut laufen kann und dass hier zumindest als erste Hilfe der Hufzustand verbessert werden sollte. Doch warum ist der Huf in diesem Falle so schlecht? Was war zuerst: die Henne oder das Ei?
Hufe sind die Spiegel des Pferdes und oft genug die unschuldigen Opfer von krankhaften Zuständen im Pferdekörper, nicht umgekehrt. Klassisches Beispiel ist die Hufrehe, ausgelöst durch Gifte oder missratenen Insulinhaushalt. Aber auch andere innerliche Faktoren beeinflussen den Huf ungünstig: falsche Ernährung, hoher Wurmbefall, artfremde Haltungsbedingungen, Medikamente etc. Äußere Einflüsse, wie schlechte Hufbearbeitung oder schlechte Reitweise, kommen hier lediglich hinzu.
So gesehen ist Straßers Diktum, der von der „natürlichen Form“ abweichende Huf sei primär schuld an vielen krankhaften Zuständen im Pferdekörper, wohl deutlich zu eng gefasst und versperrt auch mal den Blick auf geeignetere mittel- bis langfristige Maßnahmen.
Wässern
Das „tägliche, natürliche Wässern des Hufes“ sei für die Erhaltung der Hufgesundheit eine wichtige Maßnahme.
Zunächst frage ich mich, wie lange und wie oft das tägliche Wässern sein soll und wie es aussehen soll, damit es natürlich ist. Gibt es auch ein unnatürliches Wässern und wie sieht es aus?
Im Video wird eine Szene eingeblendet, bei der freilaufende Pferde in karger Gegend in einen Teich gehen. Abgesehen davon, dass dies wohl selten der Situation in unseren Offenställen entspricht: Meiner Erfahrung nach gehen Pferde nur sehr ungern freiwillig in irgendwelche Gewässer, ob stehend oder fließend, denn erstens ist Wasser ein sehr unsicherer Untergrund und zweitens könnten dort Fressfeinde lauern. An Wasserstellen kann man immer wieder beobachten, wie vorsichtig Beutetiere (und dazu gehören nicht nur Pferde) sich dem Ort nähern, bevor sie, alle Sinne geschärft, dort trinken.
Eine weitaus interessantere Frage: Ist Wässern für den Huf eigentlich nötig?
Die Antwort ist ein klares Nein. Die Evolution des Pferdes, wie wir es kennnen, verlief in überwiegend ariden (trockenen) Landschaften, also Steppen oder wüstenähnlichen Gegenden. Der Wasserhaushalt des Hufes wird von innen her gesteuert und ist auch in langen Trockenperioden gewährleistet. Dagegen ist anhaltende Feuchtigkeit des Untergrunds für Hufe eher belastend, wie man bei wildlebenden Pferden in überwiegend humiden Gegenden beobachten kann.
Risse oder Spalten in der Hufwand haben andere Gründe und kommen nicht von mangelndem Einweichen.
Auch die oft zu beobachtende Angewohnheit von Pferdebesitzern, bei Trockenheit und Hitze dem Pferdehuf durch kurzes Wässern scheinbar Linderung zu verschaffen, ist zwar eine nette Geste, jedoch unnütz und wirkungslos.
Rassetypische Bodenverhältnisse
„Dabei ist es Aufgabe der Menschen, die rassetypischen Bodenverhältnisse für das Pferd, was sie nun mal haben, in dem Haltungsgelände zu imitieren.“ [Video]
Diese etwas kryptische Aussage verstehe ich so, dass jede Pferderasse auf einem für sie optimalen Boden hausen solle. Eigentlich ein Argument gegen Offenstallhaltung, eher für strenge Zuchtkriterien.
Gehen wir nochmals zurück zum von Straßer propagierten „Naturhuf“, dann erkennen wir hier den Widerspruch. Mustangs, Brumbies und ähnliche frei lebenden Pferde sind keine einheitlichen Rassen, sondern zufällige Mischherden, die im Laufe der Zeit aus Zulauf durch entkommene oder ausgesetzte Hauspferde entstanden sind.
So unterschiedlich die einzelnen Mitglieder dieser Gruppen sein mögen, sie passen sich gleichermaßen (mit den individuellen Unterschieden, versteht sich) den jeweiligen Gegebenheiten an. Versuche mit Umsiedlungen haben ergeben, dass Hufe sich dank ihrer hohen Adaptivität relativ schnell umstellen können.
Gelenkschiefstellungen
„Bei Gelenkschiefstellungen, die natürlich zu ungleicher Hufkapselbelastung führen, muss in sehr kurzen Zeitabschnitten nachgearbeitet werden, da die weniger belasteten Bereiche der Hufkapsel schneller wachsen, das heißt, die Schiefstellung würde immer mehr verstärkt, wenn da nicht eingegriffen wird.“
Auch hier gilt wieder die Frage nach Henne und Ei.
Schiefstellungen sind oft Gelenken geschuldet, die beidseitig nicht gleichermaßen belastet werden. Das ist ein verbreitetes Phänomen, denn Pferde werden schon in ihrer Kindheit und Jugend im Sport trainiert und eingesetzt, also bevor sie überhaupt erwachsen sind. Erwachsen ist ein Pferd meiner Meinung nach erst, wenn die Skelettbildung abgeschlossen ist, also frühestens nach fünfeinhalb Jahren (oder noch später bei großen Pferden). In der Praxis wird den Tieren jedoch viel zu früh viel zu viel abverlangt. In Renaissance und Barock war man da noch vernünftiger, da galt als optimales Alter, um das Pferd umfänglich in vollem Maße zu fordern, sechs bis acht Jahre.
Eine weitere Quelle für schiefe Gelenke ist der Umstand, dass gute Hufpflege im Fohlenalter gern vernachlässigt wird. Oft wird erst später (wenn überhaupt) dran gedacht, und dann ist der Zug meist schon abgefahren. Je älter das Pferd, desto mehr sinkt die Chance, da noch was drehen zu können.
Straßer verkündet zwar hier, dass die Gelenkschiefstellung den Huf schief mache, sagt aber gleichzeitig, man könne allein durch geeignete Hufbearbeitung der Schiefstellung im Gelenk entgegenwirken. Zumindest habe ich das so verstanden.
Das ist prinzipiell richtig. Allerdings bringt die Nachbearbeitung „in sehr kurzen Zeitabschnitten“ nur wenig. Im Gegenteil: Die schiefen Gelenke, die eigentlich durchaus für die individuelle Situation des Pferdes funktional sein können, erfahren durch häufige Stellungsänderung des Unterbaus eine ebenso häufige Fehlbelastung, was letztlich Lahmheit bewirken kann.
In der Natur gibt es keine Symmetrie, alles ist deformativen Kräften unterworfen.
Die Frage ist also nicht, wie ich die Schiefe wieder gerade bekommen kann, sondern welche Schiefe, wenn sie schon mal existiert, für das jeweilige Pferd angemessen ist, und ab wann eine gewisse Grenze überschritten ist, bei der ich eingreifen sollte. Und hier ist von entscheidender Bedeutung, möglichst behutsam vorzugehen, damit die Gelenke ausreichend Zeit haben, sich der neuen Hufform anzupassen. Ich rede hier von Monaten oder gar Jahren, mit großen Bearbeitungsabständen (sechs bis acht Wochen), und habe damit gute Ergebnisse erzielt.
Ostinate Korrekturen in kurzen Zeitabständen sind dagegen sowohl für Huf als auch Gelenk die reinste Achterbahnfahrt.
PROBLEME UND WIDERSPRÜCHE
Soweit die Kernpunkte, die mir bei Begutachtung der offiziellen Straßer-Homepage ins Auge gesprungen sind. Es gibt noch ein paar Nebenschauplätze, die ich hier unerwähnt lasse, die jedoch den mir bislang vermittelten Gesamteindruck bestätigen.
Was bedeutet das für die Hufbehandlung? Wenn ich das Wichtigste zusammenfasse, dann schwebt Straßer das Bild einer perfekten natürlichen Hufform vor, die es um jeden Preis herzustellen gelte, wobei genaue Winkel, P3-Parallelität zum Boden sowie die Blutpumpe (Hufmechanismus) im Vordergrund stehen.
Anders gesagt, es geht bei ihr um die Korrektur von „Abweichungen von der natürlichen Form“: „Wir sehen das Störende und beseitigen das.“
Diese dogmatische Akkuratesse wundert mich bei Straßer, habe sie doch das Pferd „ganzheitlich“ im Blick, wie das gern verwendete Modewort heutzutage lautet.
In der Tat hat sie die Situation vieler Pferde deutlich verbessert, indem sie schon früh darauf hinwies, wie wichtig die artgerechte Haltung für deren Gesundheit ist. Reine Boxenhaltung ruft Krankheiten körperlicher als auch psychischer Art hervor. Auch die Ablehung von Gebissen ist ein feiner Zug, den ich voll unterstütze, selbst wenn die Idee nicht neu ist und die alten Rittmeister sich der Problematik durchaus bewusst waren (siehe Pluvinel).
Also warum gibt Straßer ausgerechnet bei der Barhufbearbeitung Parameter vor, die im internationalen Vergleich von den meisten Hufspezialisten (akademischen Ungulologen, Barhufpflegern als auch Hufschmieden) als unphysiologisch angesehen werden?
Die Quellenlage ist dabei etwas diffus. Auf ihrer Homepage heißt es:
„Bei ihren Untersuchungen stieß Frau Dr. Straßer auf eine Bandbreite von in Vergessenheit geratenen Studien und Wissen über den Huf und ganzheitliche Denkansätze der Medizin. Diese, vereint mit ihren eigenen Forschungsergebnissen, gaben neuen Anstoß auf der Suche nach einer Möglichkeit, Pferde in menschlicher Obhut natürlich und gesund zu (er)halten.“ [Hervorhebungen von mir]
Straßer hat 1971 an der FU Berlin zum Thema „Zur Anatomie der Leibeshöhle der Scholle“ promoviert. Hier kann also nicht der Ursprung ihrer hippologischen Ansichten liegen. Wie kam sie also rein in die Materie? Ich denke, so wie eine ganze Reihe anderer, die (besonders in der Anfangszeit der aktuellen Barhufbewegung) da eintauchten: als ambitionierte Amateure, Novizen mit professionellem Hintergrund.
„Mehr zufällig ergab sich, dass ihre eigenen Pferde in einem Offenstall lebten und ihr damaliger Hufschmied der Ansicht war, sie könnten ohne Beschlag auskommen. Das verwunderliche war, dass Pferde, die in teuren Ställen standen und regelmäßig professionell mit Hufeisen beschlagen wurden, eine Vielzahl gesundheitlicher Probleme aufwiesen, die eher kostengünstig gehaltenen Pferde hingegen nie krank wurden.
Stutzig geworden vertiefte sich Frau Dr. Straßer erneut in ihre Bücher, um nach einer Begründung zu suchen.
Bei ihren Studien kam immer häufiger die Frage nach der Natürlichkeit auf. Warum haben wild lebende Pferde, die durchaus mehr Gefahren und härteren Bedingungen ausgesetzt sind, keine Schwierigkeiten, domestizierte Pferde, die scheinbar gut behütet und umsorgt sind, hingegen so viele Krankheiten?
Hiltrud Straßer begann, eigene Forschungen und Untersuchungen anzustellen. Dabei wurde die Bedeutung der Zusammenhänge zwischen Lebensumständen und der Pferdegesundheit immer deutlicher. Dreh- und Angelpunkt wurde zunehmend die Hufgesundheit.“ [ebd.]
Die „10 goldenen Regeln“ der Barhufpflege, die sie daraus extrahierte, sind überwiegend etwas, was ich als Kalendersprüche bezeichnen möchte, also allesundnichtssagende Allerweltsweisheiten, die im Prinzip jeder teilen kann. Nur ein paar wenige Punkte davon sind hauseigen.
Egal wie seriös die „Studien“, „Denkansätze“ und das „Wissen“ auch sein mögen: Für mich kommt, wie bereits erwähnt, die Straßermethodik der Standardhufbehandlung nicht infrage, und zwar nicht allein aus theoretischen Erwägungen heraus, sondern auch aufgrund von empirischen Beobachtungen in der Praxis. Berichte, nach denen Pferde, die von Hufpflegern versorgt wurden, die nach Straßer arbeiten, nach der Behandlung lahmten, obwohl sie das vorher nicht taten, sind offenbar wahr. Auch der apologetische Hinweis auf die mögliche „Erstverschlimmerung“ und die Nachwirkung von „Altlasten“ erhöht beileibe nicht das Vertrauen.
Vielleicht stimmt ja doch, was Yvonne Welz sagt, die ich eingangs zitierte. Straßer bringe Erfolge bei ausgewiesen pathologischen Fällen, wo andere kapitulieren. Das wäre sozusagen ihr Heimatdorf, und es ist durchaus zu begrüßen, wenn das so ist.
In Standardsituationen oder Fällen, bei denen die Hufe in Gefahr sind, eine kritische Marke zu überschreiten, kommt allerdings erschwerend hinzu, dass die Straßermethodik dahingehend konzipiert ist, möglichst oft kleine Nachbesserungen zu tätigen, manchmal mehrmals wöchentlich, um die Idealform des Hufes zu erhalten. Damit nicht jedes Mal ein zertifizierter SHP® in Anspruch genommen werden muss, sollen die Pferdebesitzer, unter Anleitung und regelmäßiger Kontrolle versteht sich, die Behandlung selber vornehmen.
Aus Erfahrung in meiner Trainertätigkeit weiß ich, dass Gelerntes selbst bei eigentlich recht intelligenten und aufgeschlossenen Kursteilnehmern einer gewissen Halbwertszeit unterworfen ist, zumindest anfangs, wenn das Neue sich noch nicht gesetzt hat. Halbe Sachen sind aber oft genug der ganze Misserfolg.
Mag es sein, dass dadurch die Straßer-Standardbehandlung hiermit noch zusätzlich an Ansehen verloren hat?
AUSBLICK UND AUSWEG
Das ganze Hickhack um die Themen Beschlag oder nicht, und wenn nicht, welche Methode zur Barhufbearbeitung die beste oder allein richtige sei, ödet mich schon länger an.
Klar doch: es gibt genügend valide Aussagen dazu, welche Nachteile Hufeisen (oder ähnliches) haben. Auch ich habe andernorts solche aufgelistet und propagandistisch ausgeschlachtet. Ich bin aber andererseits kein militanter Gegner von Hufschmieden, denn auch bei ihnen finden wir oft genug studierte, selbstkritische und auch innovative Geister, die durchaus das Wohl des Pferdes im Blick haben, um insbesondere dessen oft prekäre Lage zu verbessern. Ob sie das dann wirklich schaffen, sei dahingestellt.
Huf“schutz“ verhindert in erster Linie Abrieb. Und – Hand aufs Herz – wo ist das Arbeitspensum in der Amateurreiterei heutzutage noch so hoch, dass Beschlag dann notwendig wäre?
Die Frage nach Beschlag oder nicht beantworte ich für mich daher ganz simpel: Wenn ich eine Nutzung des Pferdes ablehne, die solchen „notwendig“ machen könnte, dann geht mein Pferd barhuf. Basta, period.
Der nächste Schritt ist selbstverständlich die Erhaltung der Gesundheit des beschlaglos gehenden Hufs. Und hier sind wir wieder beim Thema: Um hier das Pferd nicht zum unschuldigen Opfer der fachmännischen Religionskriege werden zu lassen, betrachte ich die Erhaltung der Funktionalität (vulgo: das Pferd läuft prima, auch ohne Hufschuhe) als das eigentlich gültige Kriterium. Wenn das Pferd nach der Behandlung schlechter läuft als vor der Behandlung, dann ist das inakzeptabel.
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich Methoden ablehne, die regelmäßig tief in die Hufsubstanz eingreifen, also modellierend arbeiten. Wer bei der Routinebehandlung mehr benötigt als ein Hufmesser und eine Raspel, macht sich für mich verdächtig.
Mein Favorit ist die Moderation des Hufes, ihn also gewissermaßen durch dezente „Vorschläge“ davon zu „überzeugen“, er möge mittel- bis langfristig eine bestimmte Entwicklung einschlagen. Dafür brauche ich nur wenig Ausrüstung, aber umso mehr Geduld, Wissen, Beobachtungsgabe und gesunden Pferdeverstand.
Es gibt weltweit genügend Alternativen zu Straßer. Wir haben die Wahl. Warum also nicht dort zugreifen, wo mit wenig Einsatz mehr erreicht wird? Die meisten Fachleute finden wir in den großen Flächenstaaten in Übersee. Ich traue denen mehr über den Weg, weil dort Pferde tatsächlich noch richtige Arbeit verrichten müssen, und wer es schafft, deren Hufe trotzdem gesund zu erhalten, der ist für mich die erste Adresse.
Ein paar Namen? Robert Bowker, Tomas Teskey, Chris Pollitt, Brian Hampson, Pete Ramey, Maureen Tierney. Liste unvollständig.
In Deutschland ist Konstanze Rasch mit ihrer DHG (Deutsche Huforthopädische Gesellschaft) meiner Meinung nach die führende Instanz, mit der es sich zu beschäftigen lohnt.
Franchising bedeutet Dogmatik, Kontrolle und Stillstand. Dagegen sind die Forschungen auf dem Gebiet der equinen Biodynamik und Biochemie noch lange nicht abgeschlossen.
Die Augen offen halten und veraltete Ansichten wieder über Bord werfen, auch wenn’s weh tut, sind die Tugenden, die uns weiter bringen.
Hier noch eine allgemeine Schlussbemerkung:
In anderen Artikeln habe ich desöfteren provokant mit dem Tierschutzgesetz gewedelt. Dabei hatte ich vordergründig Beschlag und Gebisse im Sinn. Damit wollte ich allerdings nur einen Paukenschlag setzen und Fragen stellen, aber niemanden persönlich angreifen. In Wirklichkeit bin ich gegen Verbote, denn sie helfen nur in den seltensten Fällen. Sie sind üblicherweise dazu da, dass sie umgangen werden.
Ich setze auf ein mündiges Publikum. Wenn in ausreichender Zahl Leute bei Dingen nicht mehr mitmachen, die für Pferde Zumutungen oder Schaden bedeuten, werden diese Dinge verschwinden.
So hoffe ich zumindest.
© Jürgen Grande
Last update: 06/2024
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