Maulmetall – muss das sein?

Knochen, Holz, Stein, Kupfer, Bronze, Eisen, Stahl – auch eine Art, die kulturelle Evolution des Menschen zu beschreiben. Doch wofür steht das? Im Vordergrund steht zunächst immer der Nutzen. Härteres Material bedeutet bessere Werkzeuge – aber bald auch bessere Waffen. Werkzeug und Waffe, Gestalten und Vernichten. So geht das bis heute. Es gibt aber eine weitere Komponente bei dieser Entwicklung. Metall ist nicht nur Substanz, sondern auch Bewusstsein. Metall heißt Überlegenheit.

Was aber hat das mit Pferden zu tun? Dumme Frage. Jedes Kind weiß das. Metall und Pferd gehören doch zusammen. Metall im Maul, Metall am Huf, Metall an den Flanken. Irgendwelche Zweifel? Jürgen Grande von Minimal Horsemanship hat sich sehr ausführlich mit dem Thema beschäftigt und läßt uns an seinen Erkenntnissen teilhaben:

Der Orden der Tempelritter (1118 – 1312), ein ansonsten nicht gerade zimperlicher Haufen von Haudegen, der das Heilige Land für die Christenheit zurückerobern wollte, hatte der Überlieferung nach ein bemerkenswertes Aufnahmeritual. Es sei üblich gewesen, Novizen vor der ersten Unterweisung im Reiten einer besonderen Prozedur zu unterziehen. Ältere Mitbrüder hätten ihnen, dahinterstehend, Pferdetrensen in den Mund gelegt und typische Bewegungen mit den Zügeln vollführt. Der Eindruck muss nachhaltig gewesen sein. Auf zeitgenössischen und späteren Darstellungen sieht man sehr häufig Mitglieder des Ordens lediglich mit Halfter oder sogar komplett zügellos in den Kampf ziehen. Klaus Ferdinand Hempfling nennt dies wohlwollend iberisches „Mönchsreiten“*.

Aber wie ist man nur drauf gekommen, Pferden Dinge ins Maul zu stecken, die von Natur aus da nicht hineingehören?

Es war wohl erst einmal Zufall. Der Führstrick (oder Lederriemen, oder was auch immer) geriet ins Innere zwischen Schneide- und Backenzähne, das Maul schloss sich und beim Versuch, die Leine wieder rauszukriegen, bemerkte der Mensch eine nachgebende Reaktion des Pferdes. Die „Kontrolle“ via Maulkontakt war entdeckt. Diese Geschichte ist freilich nicht überliefert, es könnte aber so gewesen sein.

Die Idee, irgendeine Vorrichtung zu verwenden, mit dem das Pferd bequemer verfügbar ist, war also anfangs ziemlich simpel, wenn es nur darum ging, ein Lasttier zu haben. Führstrick und Halfter oder Maulriemen. Primitiv, aber wirkungsvoll. Das reichte auch, wenn Kinder mit zum „Gepäck“ gehörten.

Sobald ein Prototyp gefunden ist, der Erfolg verspricht, breitet er sich erfahrungsgemäß schnell aus und entwickelt sich weiter zu regionalen Eigenformen. Als dann das Pferd immer mehr zum Reit- oder Streitwagentier wurde, musste was besseres her als nur Pflanzenfasern oder Lederriemen.

Das Konstruktionsprinzip hat sich bis heute weltweit nicht verändert: Starres Material (meist Metall) in unterschiedlichster Ausführung liegt quer im vorderen Bereich des Mauls und ist per Leine (ebenfalls in unterschiedlichster Ausführung) mit den Händen des Reiters verbunden. Letzteres heißt im Deutschen „Zügel“, was von „ziehen“ kommt und somit die Funktion von selbst erklärt. Die Reitervölker der Antike verwendeten bereits standardmäßig Gebisse aus Bronze, lange bevor Hufbeschlag mit Eisen die Regel wurde.

Metall im Pferdemaul – muss das sein? (Foto: Pixabay)

Die Summe der Erfahrungswerte mit dieser neuen Technologie gerann mit der Zeit (wie bei vielen anderen Dingen des täglichen Lebens auch) zu einer Kultur der Selbstverständlichkeit, des Schonimmerdagewesenen. Eines war wohl von Anfang an klar: Das Ding im Maul des Pferdes erzeugt mindestens Unbehagen, wenn nicht gar Schmerz, denn sonst hätte es keine Wirkung gezeigt. Die ersten Pferdeleute ahnten es, spätestens die Tempelritter wussten es, und manch großer Meister der Klassischen Reitkunst formulierte es unverblümt.

Antoine de Pluvinel, meines Erachtens einer der herausragenden frühen Vertreter der Haute École, Rittmeister am Hofe König Ludwig XIII. von Frankreich und dessen Reitlehrer, erwähnt es, wie nebenbei, in seinem berühmten Werk „L’instruction du Roy en l’exercice de monter à cheval“ (Amsterdam 1666):

„ … la plus grande incommodité [du cheval est] de souffrir la bride: car il souffre bien plus volontiers l’homme sur luy que la bride dans la bouche.“

(„ … [für das Pferd ist] die Zäumung zu erleiden die größte Unannehmlichkeit: sogar den Menschen auf sich erleidet es um einiges bereitwilliger als den Zaum im Maul.“ – Übersetzung von mir).

Pluvinel benützt zwei Mal klar und deutlich das Wort „souffrir“, welches keinerlei abweichende Interpretationen zulässt. Bemerkenswert übrigens, dass auch die schiere Existenz des Reiters mit diesem Ausdruck bedacht wird. Und selbst dieser Reiter wird vom Pferd buchstäblich noch lieber ertragen, als der fremde Gegenstand im Maul, und das, obwohl die Großmeister der Reitkunst vorgeblich mit „sehr leichter Hand“ agierten.

Über die Wirkung der Zäumung gibt es heute keine Zweifel. Wissenschaftliche Untersuchungen sind erst jüngeren Datums, jedoch sehr aussagekräftig. Zum Wissensstand maßgeblich und unmissverständlich beigtragen haben unter anderem: Dr. Robert Cook (in Zusammmenarbeit mit Hiltrud Straßer) und Alexander Nevzorov.

Robert Cook, emeritierter Professor für Chirurgie an der Tufts University (Massachusetts, USA) hat als Veterinär einen Großteil seines Lebens damit verbracht, bei Pferden Krankheiten des Mauls, der Ohren, der Nase und der Kehle zu untersuchen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Untersuchung schädlicher Einflüsse von Gebissen als Mittel der Kommunikation beim Reiten. Cook veröffentlichte hierüber eine große Anzahl an Beiträgen.

Bevor wir ins einzelne gehen, zunächst ein prägnantes Eingeständnis:

“We’ve grown up with the presence of a bit in the horse’s mouth and accepted it without question, which is something in retrospect I can say quite vigorously was a big mistake. I accepted it, too, in spite of the fact that I supposedly had scientific training. I didn’t really consider seriously what the bit is doing to the horse. And it wasn’t until it was possible to communicate and control a horse without a bit and switch a horse overnight from bitted to bitless that all the information came tumbling in,“ he says.

Specifically, that information connects bits to a wide variety of diseases, health conditions and behavioural issues that until now were not associated with the hardware of a bridle. And it’s not just physical damage to the mouth. Obstructed breathing, impaired gait and evasive behaviors are among his growing list of bit-induced conditions.

“Prior to 1997,“ Dr. Cook says, “I might have listed twelve problems as ‚aversions to the bit.‘ From research completed since then, I now list over two hundred negative behaviours and forty diseases … I kick myself for not having recognized sooner that the bit causes so much mayhem. Bronze age man made a mistake putting a piece of metal in a horse’s mouth.“

(Dr. Robert Cook, zitiert in Carley Sparks‘ Artikel “Are Bits ‚Bronze Age‘ Technology?“ in Horse Sport, June 2012)
“Used since the Bronze Age, metal bits have been accepted as part of the furniture of horsemanship and not subjected to scrutiny until quite recently.“ (Cook 1999)
“As bits have been standard equipment for millennia, they are widely assumed to be indispensable and ethically justified.“ (Cook a.a.O.)

Cook war also früher auch der irrigen Meinung, Gebisse seien unvermeidlich, bis er aus eigener Anschauung die segensreiche Wirkung ihrer Verbannung erfahren konnte. Es muss ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sein, und veranlasste ihn zu langjährigen Untersuchungen. Zwischen 1997 und 2012 stieg die Anzahl ermittelter unterschiedlicher Arten von „Abneigung gegen das Gebiss“ von 12 auf über 200, dazu kamen noch 40 verschiedene darauf basierende Krankheitsbilder.

Es türmt sich also ein Berg von Fragen auf

Auf Cooks Website gibt es eine wahre Flut an Information, alles wissenschaftlich fundiert und akribisch dokumentiert, also eine, wie ich meine, weitgehend zuverlässige Quelle. Bei Forschungen zu den Wirkungen von Gebissen hat Cook gezielt definierte Gruppen von Pferden untersucht, wobei das spezielle Interesse auf der Umstellung zu gebisslos lag.

Um nicht auszuufern, fasse ich hier die sehr aussagekräftigen Ergebnisse einer noch recht jungen Veröffentlichung zusammen, die Cook zusammen mit M. Kibler 2018 im Rahmen der Reihe “Equine Veterinary Education“ zugänglich gemacht hat (unter dem Originaltitel “Behavioural assessment of pain in 66 horses, with and without a bit“ – hier in der Folge “66 horses“ genannt).

Es handelt sich um eine Langzeitstudie mit Freiwilligen, die das Verhalten ihrer Pferde vor und nach der Umstellung auf gebisslos verglichen. Grundlage dafür war ein standardisierter sechsseitiger Fragebogen mit 106 Punkten bezüglich Pferdeverhalten und Anzeichen von Krankheit (mit ja oder nein zu beantworten) sowie zehn Fragen bezüglich des Gefühls der Besitzer beim Reiten. Von 96 Fragebögen kamen schließlich 66 komplett ausgefüllt zurück. Diese 66 Dokumente und 69 darin signifikant auswertbare Punkte bildeten dann die Basis für die letztendlich vorliegende Dokumentation.

Die Art der Untersuchung war eher ungewöhnlich:
“Pain studies in animals have not generally included removal of the pain’s source. The arrow of direction in assessing most management interventions (e.g. castration) is from painless to painful. In the current study, the direction was reversed.“ (“66 horses“)
Hier wurde also den Pferden nichts zugefügt, sondern das Zugefügte (Gebisse jeder Art) entfernt.

Die Zielsetzung der Studie war, erste Antworten auf sechs Fragen zu geben:

– Welche Verhaltensweisen verursachen Gebisse?
– Wie häufig sind diese?
– Wieviele gebissverursachte Verhaltensweisen kann ein einzelnes Pferd aufweisen?
– Sind diese rückgängig zu machen, wenn das Gebiss entfernt wird?
– Ist das Wohlergehen des Pferdes gesteigert, wenn das Gebiss entfernt wird?
– Kann man ein Pferd ohne Gebiss kontrollieren?

Die Nullhypothese lautete, dass die Entfernung des Gebisses keine Veränderung der Verhaltensweise hervorrufen würde. Diese Nullhypothese wurde schlagkräftig widerlegt:

“Sixty-nine behaviours in 66 bitted horses were identified as induced by bit-related pain and recognised as forms of stereotypic behaviour … The number of pain signals for the total population when bitted was 1,575 and bit‐free 208; an 87% reduction … The term ‘bit lameness’ was proposed to describe a syndrome of lameness caused by the bit. Bit pain had a negative effect on proprioception, i.e. balance, posture, coordination and movement. Only one horse showed no reduction in pain signals when bit-free. The welfare of 65 of 66 horses was enhanced by removing the bit; reducing negative emotions (pain) and increasing the potential to experience positive emotions (pleasure).“ (“66 horses“)

Was verstehen die Autoren der Studie unter “pain“ (Schmerz / Leid)?

“Pain in animals is defined as an aversive sensation caused by actual or threatened tissue damage; a negative mental state.“ (“66 horses“)

Hier eine kleine, ungeordnete Auswahl der erkannten Anzeichen von Leid:

Angst, Steifheit des Halses, Mangel an Kontrolle (Unfallgefahr), Kopfschütteln, Unkonzentriertheit, Flucht, Kampf, steife Gänge, langsames Auffassungsvermögen, unkooperativ, schwere Vorhand, Abweisen des Gebisses, schwieriges Aufsteigen, Schnappen nach dem Gebiss, Mangel an Mut, Stolpern, Katatonie (Angststarre), Kopfscheuheit, Hüpfen oder Bocken, Stalldrang, Steigen, Rückenprobleme. Die Liste geht weiter …

Hier die wichtigsten Resultate:

“All 69 behaviours were caused by the bit, as judged by their significant reduction in prevalence when the bit was removed. Excessive salivation was the only behaviour not caused solely by bit-induced pain, being also a reflex response to an oral foreign body.
Bit-induced behaviours, as a group, were highly prevalent. From 66 horses, the number of horses exhibiting each behaviour ranged from 53 (80% of the population) to 4 (6%).
The median number of behaviours per horse when bitted was 23 (range 5–51); when bit-free 2 (range 0–16).
Most bit-induced behaviours were eminently reversible and the change was statistically significant.
The welfare grade for the population when bitted was judged to be D/0 (marked to severe compromise and no enhancement) and, when bit-free B/++ (low compromise and mid-level enhancement).
None of the riders experienced loss of control when bit-free, quite the opposite. In only one horse was control unchanged.
What ultimately did surprise owners was the unexpectedly large number of pain indices each discovered … After owning a horse for years, riders discovered that many ‘unwanted’ behaviours they had assumed to be immutable character traits were corrected by removing the bit.“

Nochmals die bisherigen zwei Kernaussagen:

  • Keiner der teilnehmenden Pferdebesitzer konnte beim Reiten ohne Gebiss Kontrollverlust feststellen, ganz im Gegenteil.
  • Nach Jahren des Zusammenseins mit ihren Pferden entdeckten deren Besitzer erst jetzt, dass viele unerwünschte Verhaltensweisen, die sie für unveränderbare Charaktereigenschaften hielten, beim Weglassen des Gebisses verschwanden.

Und hier die Top Five der Studie:

“The most prevalent pain index was ‘hates the bit’, a family of behaviours shown by 53 horses (80% of the population). The full line in the questionnaire read, ‚Hates the bit, chomping, chewing or clenching the bit, grinding the teeth (bruxism), constant fussing with the bit, ‘busy mouth,’ evading contact‘.

The second most prevalent index was ‘fright’, shown by 46 horses (70% of the population). In the questionnaire, the line read ‚Fright: Anxious, unpredictable, ‘hot,’ nervous, painful, shy, spooky, panicky, tense, stressed‘. It seems reasonable to assume that at least a quarter of the 69 pain indices imperil the safety of horse and rider. The data support the opinion that bit-induced fear is the cause of many horse-related accidents (Jahiel 2014). Removal of the bit in 65 horses appeared to ‘minimise risk and prevent avoidable suffering’ … In the feral horse, pain or the anticipation of pain (fear) is adaptive and promotes survival. In the ridden horse, pain is inimical to performance.

A ‘stiff neck’ was the third most prevalent behaviour and shown by 45 horses (68% of the population). Its 84% reduction when bit-free is important for reasons over and above the relief of pain. Bitted-rein tension restricts movement of the head and neck, handicapping a horse’s ability to breathe, stride and balance. Bedouin horsemen apparently understood this long ago. When their very lives depended on their horse’s peak performance, Bedouins rode bit-free (Hanson and Cook 2015). Over half of the 69 pain indices when bitted were expressed by abnormal positions of the head and neck at exercise. Unfettered movement of the head-and-neck pendulum is a vital locomotory mechanism. Freedom of the neck is key to freedom of gait.

The fourth most prevalent sign of pain when bitted was ‘lack of control’ (65% of the population). Its reduction by 86% when bit-free questions the rationale of competition rules which mandate bit usage on the grounds that bits control horses.

Because of … the persistent nature of neuropathic pain compared with nociceptive pain, the number of horses documented as having recovered from facial (trigeminal) neuralgia may not reflect the population’s full potential for recovery from what was listed in the questionnaire as ‘Facial neuralgia (the headshaking syndrome)’. The percentage reduction in the prevalence of this syndrome in the population was the lowest of the five major categories of fear. Yet the reduction was still encouraging compared with results from other treatments for headshaking (Mills et al. 2002).“

Statistisch zusammengefasst:

“When bitted, the median number of behavioural signs of pain per horse was 23. After being bit-free for a median period of 35 days, the median was 2. Removal of the bit reduced the prevalence of pain signals by 87%; showing the bit to be a predominant cause of pain in the population. The null hypothesis was refuted. Following the criteria proposed by Campbell (2013) for distinguishing use from abuse, removal of the bit in 65 horses minimised risk (for the rider) and prevented avoidable suffering (for the horse). In sum, 65 horses out of 66 benefitted from removal of a foreign body.“

Robert Cook und sein Mitautor wären keine ernstzunehmenden Wissenschaftler, wenn sie nicht (später unbegründete) Zweifel an der Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens hätten:

“The prototype questionnaire does not meet recently developed standards for questionnaire-based research … based on the Five Domains Model (Mellor and Stafford 2001; Jones and McGreevy 2010; Mellor and Beausoleil 2015; Mellor 2017).“

Trotzdem ist der Fragenkatalog dermaßen umfangreich, dass er wohl, wenn auch anders gewichtet und geordnet, den Problembereich ausreichend abdeckt“. Assessors were not ‚blinded’“, lautet ein weiterer Einwand. Dafür waren die Pferdebesitzer oft lange Jahre mit ihren Tieren vertraut. Selbstverständlich kann es dabei zu selektiver, verzerrter Wahrnehmung kommen, vielleicht war sogar in geringem Umfang der Rosenthal-Effekt wirksam. Mit Sicherheit gab es aber auch die gegenteilige Haltung bei den Teilnehmern, nämlich Skepsis, ob das Wegnehmen von Gebissen überhaupt einen Effekt haben kann.

Ich denke, das hebt sich in etwa auf, sodass die Ergebnisse der Studie doch irgendwie als „objektiv“ einzuschätzen sind und an der Wissenschaftlichkeit der Untersuchung im Kern keine ernsthaften Zweifel aufkommen können.

“A simple count of pain indices represents the most basic of welfare grading systems. As a result, the homocentric ‘lack of control’ carried no more weight than, for example, ‘yawning’. Absence of relative weighting will have underestimated the harm of the bit. That said, current welfare science thinking recommends non-numerical grading (Mellor and Beausoleil 2015; Mellor 2017).“

Das ist genau das, was ich schon immer über die Schwäche der meisten Statistiken sage, dass nämlich deren quantitative Fokussierung die Qualität der Aussage überschattet. Hätte man eine qualitative Gewichtung der Aussagen vorgenommen, wäre wohl eine noch größere Schadenswirkung von Gebissen festgestellt worden.

“Observational evidence constitutes the foundation for animal welfare assessment and this evidence – carefully observed – is objective, not subjective. ‚Contemporary animal welfare science understanding‘ accepts the need to ‚focus on subjective experiences, known as affects, which collectively contribute to an animal’s overall welfare status‘ (Mellor 2017). Inferences based on such observational evidence derive credibility from the underlying affective neuroscience in a process that ‚involves cautiously exercising scientifically informed best judgement‘ (Mellor and Beausoleil 2017). Thus, it is asserted that improvements in behaviour following removal of the bit enable inferences to be made about the aversive experience of bit-induced pain. The improvements cannot be dismissed as ‘merely subjective’.“ (Alle Zitate aus “66 horses“)

Cook et al. gehen noch ein Stück weiter:

“The 69 pain indices assessed in this study represent only a fraction of possible bit aversions. If, for example, a study was done on racehorses, it is predicted that many more bit-induced, pain-related indices (diseases and disabilities) would be identified. From a performance perspective, the most critical years in the working life of a Thoroughbred racehorse are those between the ages of one and four. These are the years in which canine teeth are developing in the interdental space. Bit-induced mandibular periostitis (‘sore mouth’) is the aetiological equivalent of metacarpal periostitis (‘sore shins’). Both sides of the mouth are traumatised on a daily basis. The mouth is even more sensitive than the shin. Bit pain can trigger a cascade of locomotor and respiratory consequences; separation of the jaws – open lips – loss of the intraoral vacuum – instability of the soft palate – asphyxia – followed by fatigue, sprains, dislocations, fractures and falls – and/or negative pressure pulmonary oedema (‘bleeding’) and sudden death (Cook 2002, 2014, 2016; Mellor and Beausoleil 2017).“

Womit wir beim leidigen Thema Turniersport angelangt sind

Einer seiner schärfsten Gegner, der Russe Alexander Nevzorov, hat 2006 in seinem hauseigenen Forschungszentrum (Nevzorov Haute École Research Centre) in Zusammenarbeit mit dem Government of Saint-Petersburg Health Protection Committe (vertreten durch die Forensiker V.D. Isakov und V.E. Sysoev) eine Untersuchung durchgeführt “to define the force of common and jerk torque impact of control means used in equestrian sports (snaffle, curb) upon a horse’s mouth.“ Zweck der Studie war “definition of the maximum force of jerk torque and common impact of control means used in equestrian sports (snaffle, curb) upon a horse’s mouth.“

Die Versuchsanordnung bestand aus einer Pferdekopfnachbildung (Dummie), auf die mit herkömmlicher Trense oder Kandare vermittels einer physikalisch korrekten Verbindung zur Reiterhand via Zügel auf eine Weise eingewirkt wurde, wie sie für den Pferdesport (und somit im wesentlichen auch für die Freizeitreiterei) typisch ist. Die Messtechnik stammte aus der Forensik. Der Dynamometer zeigte die Einwirkkräfte in einer 5kg-Skala an. Die ausführenden „Reiter“ waren ein Junge (13 Jahre), eine junge Frau (23 Jahre) und ein durchschnittlicher Mann (43 Jahre).

Harte Reiterhand (Foto: Pixabay)

Es wurde in zwei Wertekategorien ermittelt:

Erstens die maximale Einwirkung der Probanden auf den Pferdekopf. Sie lag beim Anziehen bei 50 bis 100 kg, beim Reißen 220 bis 300 kg. Zweitens die Einwirkung der Gebisse auf einen Quadratzentimeter des Mauls. Hier lagen die Werte bei 50 bis 100 kg (Anziehen), 180 bis 220 kg (durchschnittliches Reißen) und über 300 kg (starkes Reißen). Diesen Bericht kann man nachlesen (im russischen Original sowie in dessen englischer Übersetzung) in: Alexander Nevzorov, The Horse Crucified And Risen; Nevzorov Haute École 2011.

Nur ein Phänomen des Turniersports?

Gehen wir zurück zu Cooks Studie und schauen uns ein paar Details an. Wohlgemerkt, diese bezieht sich ja „nur“ auf Freizeitreiter und Amateure.

“Collectively, the behaviours were predominantly manifestations of pain experience, expressed by aberrant movements of the head, spine and limbs. They ranged from too little movement (e.g. stiffening, freezing) to too much movement (e.g. bucking, bolting). That some horses may exhibit a few aversions to the bit is widely acknowledged. That every horse is programmed to be averse to the bit and that aversions are numerous is not. The current study showed that at least 65 of 66 horses exhibited aversion to the bit and that horses have not less than 69 ways of exhibiting frustration, attempts to cope and efforts to avoid bit contact … the mandible and tongue (a sense organ in its own right) figure prominently as the seat of musculoskeletal manifestations of pain experience in the bitted horse. To this must be added pain from the lips, a particularly sensitive area of another sense organ – skin.

A bit stimulates nociceptors mediated by the trigeminal nerve in lips, tongue, teeth and bone. Gingiva is periosteum, the most sensitive part of bone. A principle of saddle-fitting is that saddles should not press on bone. A bit breaches this principle. In the male horse, the peridontium of the canine tooth roots lies immediately ventral to the dorsal edge of the so-called ‘interdental’ space. In the female, unerupted, vestigial canine teeth are common … In both sexes, ‘wolf’ teeth (erupted and unerupted) may be present in this space. In cross-section, bits are circular and make point contact with the ‘knife edge’ of bone at the ‘bars’ … When the edges of the tongue are pinched between bit and bone, this too is likely to be painful. Pain is also likely when lips are stretched longitudinally to twice their normal length by the bit’s retractor effect. Finally, cuts at the commissures will cause pain.

In common with other mammals, the vestibular labyrinths and receptors in skin, muscle, tendon and temperomandibular joints of the horse’s head mediate perception of orientation and motion in three planes; i.e. proprioception. Head proprioception controls not only movement and posture of the head but also dominates that of the trunk and limbs … In the ridden horse, imbalance can result in a fall with potentially fatal consequences. Head proprioception constitutes a central balancing mechanism and is key to a horse’s agility and athleticism. Painful restraint of the head by a bitted rein interferes with a horse’s ability to balance. As a horse’s head movement is synchronised with limb movement for energy economy in the work of breathing and locomotion, proprioception unfettered by nociception is crucial. A bit also obstructs breathing and probably triggers the negative affective experiences of breathlessness, i.e. respiratory effort, air hunger and chest tightness (Mellor and Beausoleil 2017). These unpleasant physical and emotional consequences of bit pain are also antithetical to athleticism. Thus, the bit represents an impediment to welfare, safety and performance. Noxious stimuli from the bit are proposed to be incompatible with the unimpeded function of at least four systems critical to performance: the nervous, musculoskeletal, proprioceptive and respiratory systems …

… In common usage, the word ‘lame’ denotes a gait abnormality caused by pain in a limb. Another sense of the word is not limited to limbs and carries the wider meaning of ‘disabled, imperfect and lacking in smoothness’ (Webster). In this sense, at least 65 of the 66 horses when bitted were shown to be ‘disabled’. When trotted-up in a halter, they were not limb-lame, but when bitted and ridden they developed an abundance of gait abnormalities. The term ‘bit lame’ is proposed to describe a syndrome of bit-induced disability, i.e. the 69 pain indices here studied. As bit usage is the norm in ‘English’ equitation and still frequent in ‘Western’ equitation, it seems likely that bit lameness will be found to be common in the ridden horse.“ (“66 Horses“; Hervorhebungen von mir)

Das müsste erst einmal reichen

Jetzt kommt natürlich sofort der Einwand: Ja, schon klar – das ist aber nur dann der Fall, wenn Reiter ungeschickt und grob sind. Dagegen sei die „leichte Hand“, wie sie in der „Klassischen Reitkunst“ angewandt wird, völlig unschädlich, wenn nicht gar ein Segen für das Pferd. Man liest das immer wieder, gebetsmühlenartig. Besonders in den „Richtlinien für Reiten und Fahren“ der FN, dem Poesiealbum des deutschen Schönreiters. Auf der Homepage der FN fand ich unter der Überschrift „Der feine Draht zum Pferdemaul: So entsteht die Anlehnung“ folgendes:

„Anlehnung ist die stete, weich-federnde Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul… Die wichtigste Voraussetzung für die Anlehnung ist ein losgelassener, ausbalancierter und geschmeidiger Sitz des Reiters, der erst eine gefühlvolle Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul ermöglicht… Die Anlehnung ist niemals starr, sondern dynamisch. Sie wird manchmal etwas stärker und dann wieder leichter. Euer Ziel sollte es sein, die Anlehnung so beständig und leicht wie möglich zu halten, schließlich wirkt ihr über die Zügel und das Gebiss unter anderem auf die sensible Zunge des Pferdes ein… Ist das Pferd korrekt ausgebildet und hat Vertrauen zur Reiterhand, dann nimmt es den Zügelkontakt an und tritt an diese Verbindung heran. Es beginnt am Gebiss zu kauen und entspannt seine Kiefergelenke, die Zunge und das Genick. Diesen Prozess unterstützt der Reiter durch seine gefühlvoll treibenden Hilfen (Schenkel- und Gewichtshilfen). Das Pferd bewegt sich willig vorwärts und beginnt, sich am Gebiss, beziehungsweise an der Hand des Reiters abzustoßen.“

„Feiner Draht“ stimmt schon rein physikalisch nicht. Wenn ich eine einfache Wassertrense (Minimum 300g Gewicht), ein Hannoversches Reithalfter (ca. 500g) und Standardzügel (ca. 250g) kombiniere, dann habe ich ein gutes Kilo Material an der Hand. Gemessen am Pferdegewicht ist das gewiss wenig. Aber kann man tatsächlich davon ausgehen, dass es für das Pferd vom Gefühl her vernachlässigbar ist?

Hier nochmals die Studie von Robert Cook:

“Horses exhibit stereotaxis; a word derived from the Greek stereo, ‘hard, solid’. This fundamental property of (even) primitive life forms, also known as thigmotaxis, is defined as ‘the positive (or negative) response of a freely moving organism to cling to (or avoid) a solid object’. Indisputably, a bit is a ‘solid’ object. A horse is innately programmed to (try and) move away from (evade) the bit, i.e. to display negative stereotaxis. A definition for thigmotaxis … emphasises the point – ‚the motion or orientation of an organism in response to a touch stimulus‘. When the touch is painful, stereotaxic stimuli are stronger. It follows that the equitation mantra requiring a horse to ‘accept the bit’ is misconceived. Expecting a horse to accept an oral foreign body is a biologically unrealistic expectation.“ (“66 Horses“; Hervorhebung von mir)

Die Überbewertung von Gebissen scheint auf einem geradezu lächerlichen Missverständnis zu beruhen. In einem anderen Fachartikel erläutert Dr. Cook:

“The vernacular phrase ‚on the bit‘ is an inaccurate version of the phrase ‚acceptance of the bridle‘ … It has fixed in rider’s minds and even the minds of those riders who are members of national federation committees, the assumption that the bit is something without which dressage cannot be performed … The phrase ‚on the bit‘ was introduced in 1921 as the result of a mistranslation of the French phrase ‚dans la main.‘ Its misinterpretation since then has encouraged riders to use the bit incorrectly to obtain false collection … “ (In: ‚Horses For Life‘ 2008; Hervorhebung von mir)

Ein Fremdkörper im Maul ist also auch bei „leichter Hand“ zumindest unangenehm, und das Pferd würde ihn viel lieber ausspucken, statt via Kauen seine Kiefergelenke, die Zunge und das Genick zu entspannen versuchen, wie es bei der FN (und nicht nur dort) heißt.

In einer anderen, dreiteiligen Artikelserie von 2004 (“Fear of the Bit: A Welfare Problem for Horse and Rider“; hier “FearBit“) fasst Robert Cook nicht nur die zehn Hauptresultate seines damaligen schon sehr umfangreich gewordenen Forschungsstands zusammen, sondern untersucht auch, was eigentlich hinter dem “Abkauen“ (verbunden mit auffälliger Speichelbildung) steckt. Von Entspannung kann keine Rede sein.

“The tip of the tongue is like the tip of an iceberg … there is a lot more tongue behind the tip. The tongue is a long and bulky organ. In an adult Horse measures about 35 cm (14 inches). A reminder of the tongue’s length can be gained from the fact that its root is suspended from the same bony scaffolding that supports the voice box (larynx). Any thing that causes the tip of the tongue to move, such as the bit, is likely to cause the root to move and, therefore, the soft palate and the voice box. The tongue is a powerful muscular organ but also a highly tuned sense organ. By taste and touch it selects food and by its motor power it plays a critical part in the mastication and swallowing of food. The tongue has predominantly digestive functions. It is active during feeding but should be at rest during exercise. As in all mammals, the horse has evolved to eat or exercise. It cannot carry out both activities simultaneously. And yet by placing a bit in its mouth this is precisely what man expects it to do.

In the exercising horse at liberty, the lips are closed; there is no air in the mouth; the immobile tongue occupies the entire space within the cavity of the mouth and the digestive part of the throat under the soft palate; and salivation is in abeyance. In the exercising horse when ridden with a bit in its mouth, the seal of the lips is broken; the jaw may be frankly open; air enters the mouth and digestive part of the throat; the tongue is constantly on the move; and salivation is stimulated.

The above responses triggered by the bit are digestive system responses. All these responses are diametrically opposed to the respiratory system responses required for exercise. Because of these, a bit interferes with the horse’s ability to breathe properly at exercise. As a running horse takes one stride for every breath, if it cannot breathe properly it cannot stride properly. As these two functions are impaired, together with other cardiovascular functions crucial to exercise, a bit prevents a horse from performing to its full potential. The details of how the bit causes confusion in the horse’s throat have been explained and illustrated in previous articles (Cook 1999b, 1999c, 2000, 2002a). A cascade of respiratory events occurs in which respiratory obstruction progresses from mild to severe and even fatal. In any one bitted horse, the degree of asphyxiation will vary according to the nature of the exercise.“ (“FearBit“; Hervorhebungen von mir)
[Es folgt in Cooks Beitrag ein mögliches Beispiel für einen solchen Dominoeffekt, eine 21 Punkte umfassende Aufzählung]

Die „leichte Hand“, und damit deren „Anlehnung“, scheint wohl ein Mythos zu sein. Oder sollte man eher sagen: Propaganda?

Wie verhält es sich da mit den alten Meistern der Haute École? Waren sie unwissend? Waren sie Scharlatane? Zumindest bei Antoine de Pluvinel möchte ich beides verneinen. Wie bereits erwähnt, sprach er in Zusammenhang mit der Zäumung von Leid, das dem Pferd zugefügt werde. Bei der Ausbildung an den Pilaren (abgebildet in «Le Manege Royal») sehen wir statt dessen die Verwendung des sogenannten „Nasbandes“, ein Strick mit Sperrschlaufe (die sich bei Belastung nicht zuziehen kann), der an einer oder zwei Pilaren befestigt wird.

Das Nasband kommt auch zum Einsatz beim Reiten an den Pilaren, wobei das Pferd zusätzlich mit einer Schulkandare gezäumt ist, die aber offenbar nicht zum Einsatz kommt und eher wie Dekoration aussieht. (Antoine de Pluvinel: Le Manege Royal; Paris 1625)

Das Zaumzeug der Haute École ist bizarres Meisterwerk der Schmiedekunst und zudem wohl „hocheffektiv“ bezüglich ihrer (möglichen) Wirkung. Alle großen Rittmeister hatten davor wohl einen Heidenrespekt, und man sieht sie bei den zahlreichen Abbildungen, die uns überliefert sind, stets mit gelösten Zügeln, auch bei schwierigen Lektionen.

Es geht auch ohne… (Foto: Pixabay)

Wozu also das Brimborium?

Ich werde den Verdacht nicht los, dass ein gehöriges Maß an Prunksucht mit im Spiel war (und in bescheidenerer Form bis heute ist). Dazu kommt eine typisch menschliche Eigenschaft: die Zurschaustellung von Macht. Man stelle sich Pluvinels Brotherren, König Ludwig XIII. von Frankreich, ohne feinziseliertes Mundstück, ohne schön gewirkte Halfter und Zügel vor, also ohne weithin sichtbare Insignien seiner Herrlichkeit, während er auf Bonnite, Pluvinels Leibhengst, thront. Was übrig bliebe: ein buntgekleideter Geck auf einem edlen Pferd, offenbar ohne sichtbare Kontrolle, ohne Macht (also buchstäblich ohnmächtig). Also kein Potentat, der ein ganzes Reich regieren könnte. Das geht natürlich so nicht.

Und so sind sie bis heute: die großen, kleinen und ganz kleinen „Könige“ …

Diese Fülle von Informationen sollte jeden halbwegs vernünftigen Reiter dazu bringen, nochmals über Gebisse nachzudenken und sich vielleicht ihrer zu entledigen. Ich bin allerdings kein Missionar, sondern versuche, durch Argumentation zu überzeugen. Die Frage muss sich also jede(r) selber stellen und beantworten.

Vielleicht sollte man auch überlegen, ob Gebisse nicht gegen das Tierschutzgesetz verstießen (was übrigens auch für Hufbeschlag und andere „Hilfsmittel“ in Erwägung gezogen werden könnte). Es würde an sich der §1 TierSchG schon ausreichen. Es lohnte sich aber auch, einen Blick auf die §§ 3.1b / 3.5 / 17.2 / 18.1 zu werfen. Wäre das wirklich abwegig?

Warum wird das Gesetz so selten bei Pferden angewandt? Ganz einfach: Eine gefühlte Ewigkeit hat niemand (bis auf wenige Ausnahmen) nennenswert was dagegen gehabt, metallenes Zeugs ins Maul zu stecken, mit Beizäumung eine unnatürliche Haltung zu erzwingen, Eisen an die Hufe zu schlagen, mit Sporen die Flanken zu traktieren und mit allen erdenklichen Modellen von Peitschen, Geißeln und Ruten Schläge auszuteilen. Warum sollte das plötzlich falsch sein?

Ein zentraler Punkt bei den meisten Reitern ist offenbar die Auffassung, mit irgendeiner Trense oder Kandare im Maul könne man das Pferd „kontrollieren“. Das soll heißen, ohne Gebisse mache das Pferd, was es wolle, und das ist ja bekanntlich gefährlich. Seien wir ehrlich: Es handelt sich also schlicht um blanke Angst.

In der oben erwähnten Ausführung (“66 Horses“) lautet jedoch ein zentrales Ergebnis, dass nach Wegnahme dieser „Kontrollmittel“ die Sicherheit beim Reiten deutlich zugenommen hat.

Das deckt sich auch mit meinen eigenen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte. Auch ich habe irgendwann in irgendwelchen Mainstream-Ställen angefangen, die im wesentlichen nach FN-Reglement unterrichteten, und ich habe nirgends sonst so viele frustrierende Reitstunden und auch Unfälle (am eigenen Leib sowie bei allen anderen Beteiligten) erlebt, egal ob in der Halle oder beim Ausritt. Erst als ich nach einer Schnauf- und Denkpause auf die Methode eines berühmten Vertreters des sogenannten Natural Horsemanship aus den USA gestoßen bin, vollführte meine Reitweise eine bedeutende Kehrtwendung.

Meinen ersten gebisslosen Ausritt hatte ich mit einem Anglo-Araber-Vollblut, das ich erst seit kurzer Zeit kannte. Das war verblüffend einfach, und vor allem fühlte ich mich zu jeder Sekunde tausendmal sicherer als früher mit Trense. Seit ich eigene Pferde habe, beziehungsweise Pferde von Bekannten oder Kunden über einen längeren Zeitraum betreuen darf, ist mir nie wieder in den Sinn gekommen, etwas anderes zu verwenden, als gebisslose Zäumung. Unfälle gehören seitdem der Vergangenheit an.

Selbstverständlich ist das nur die „halbe Miete“, denn ein pferdegerechtes Training sowie ein Verhältnis zum Pferd auf Augenhöhe sind unabdingbare Voraussetzungen, damit das auch wirklich klappt. Umgekehrt ist letzteres jedoch mit der Verwendung von Gebissen kaum zu haben.

Ich werde öfter gefragt, was zum gebisslosen Reiten am geeignetsten sei. Meine Antwort ist simpel: das, was im konkreten Fall am besten funktioniert. Mein persönlicher Favorit ist die kalifornische Hackamore (auch als „echtes Bosal“ bekannt). Robert Cook hat eine eigene Zäumung entwickelt (“bitless bridle“) und erwähnt zudem lobenswert das „Beduinen-Halfter“. Beides habe ich noch nicht ausprobiert, macht aber einen guten Eindruck auf mich.

Knotenhalfter sind für „Anfänger“ des Gebisswegschmeißens ein guter Einstieg, wobei ich jedoch erstens davor warne, ihn grob und ungeschickt einzusetzen, denn auch er kann richtig weh tun, und zweitens empfehle ich, sich nicht irgendein Seil zuzulegen (die Materialien von Pat Parelli haben sich bislang als die besten bewährt). Gerne reite ich auch mit Stallhalfter oder Halsband („Cordeo“), was aber eine wirklich routinierte Beziehung zum Pferd voraussetzt.

Vielleicht helfen ja meine letzten Hinweise, die Scheu zu überwinden und das Weglassen von Mundstücken als echte Alternative auszuprobieren – und eventuell dabei zu bleiben…

Literaturtips

W. Robert Cook, Hiltrud Strasser, Sabine Kells: Metal In the Mouth* (The Abusive Effects of Bitted Bridles); Edition Kells 2003

Hiltrud Straßer, Robert Cook: Eisen im Pferdemaul*
Knirsch-Verlag 2003

Robert Cooks Artikel im Internet

Alexander Nevzorov: Antique Bits, Spurs and Stirrups
Nevzorov Haute École 2012

Lydia Nevzorova: Equestrian Sport
Nevzorov Haute École 2012

Alexander Nevzorov: The Horse Crucified and Risen
Nevzorov Haute École 2011


© Jürgen Grande
Last update: 03/2024

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