Wahrnehmungsmöglichkeiten des Pferdes
Jährlich werden der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) rund 4.000 Unfälle mit Pferden gemeldet. Der überwiegende Teil hiervon ereignet sich im Umgang mit dem Tier und nicht – wie oft vermutet – beim Reiten. Als Unfallursache wird häufig das unvorhersehbare Verhalten des Pferdes genannt. Kenntnisse über natürliche, typische Verhaltensweisen sowie über Ansprüche und Bedürfnisse des Pferdes sind daher eine wichtige Voraussetzung, um Unfälle zu vermeiden.
Die Reaktion eines Pferdes hängt mit seinem Verhalten als Steppen-, Flucht- und Herdentier sowie mit seiner Sinneswahrnehmung zusammen. Im routinierten Umgang mit dem „Partner Pferd“ gerät besonders Letzteres oft in Vergessenheit. Das für ein Pferd eine knisternde Plastiktüte am Boden furchterregend sein kann, wissen wir, aber warum ist das so? Wie sieht das Pferd diese Tüte? Was hört es? Die Sinneswahrnehmung der Pferde unterscheidet sich deutlich von der des Menschen.
Bei Annäherung von hinten bemerkbar machen
Bedingt durch die für ein Fluchttier typische seitliche Anordnung der Augen hat das Pferd im Gegensatz zum Menschen eine fast komplette Rundumsicht. Lediglich den Bereich direkt vor der Stirn und einen größeren Winkel hinter der Hinterhand kann es nicht einsehen. Dementsprechend sollte sich einem Pferd von schräg vorne genähert werden. Geht man von hinten auf ein Pferd zu, muss sich der Mensch unbedingt bemerkbar machen, denn auch das liebste Pferd kann instinktiv reagieren und möglicherweise ausschlagen.
Unscharfe aber schnelle Wahrnehmung
Die Sicht mit beiden Augen nach vorne (binokulare Sicht) ermöglicht dem Pferd dreidimensionales Sehen. Die seitliche Sicht mit einem Auge (monokulare Sicht) nimmt das Pferd nur zweidimensional wahr. Aus diesem Grund sehen Pferde ihre Umwelt auch deutlich unschärfer als Menschen.
Das Bewegungssehen ist dagegen stark ausgeprägt und wird über weite Distanzen erkannt. So sehen Pferde 20 bis 30 Bilder pro Sekunde, Menschen hingegen nur fünf Bilder pro Sekunde. Um Pferde nicht zu verunsichern, sollten daher in ihrer Umgebung hastige und unkontrollierte Bewegungen vermieden werden.
Pferdeaugen arbeiten unabhängig voneinander
Am Boden liegende Objekte werden aufgrund der Anatomie des Pferdeauges besonders gut wahrgenommen. Dies ist evolutionsbedingt, denn Raubtiere lauern am Boden und machen sich durch Bewegungen bemerkbar. Darüber hinaus arbeiten die Pferdeaugen unabhängig voneinander, weshalb Pferde nach der Gewöhnung an einen unbekannten Gegenstand auf der einen Seite anschließend auf der anderen Seite erneut scheuen können. Der Gegenstand stellt nämlich für das Pferd nun ein komplett neues Objekt dar.
Helligkeitskontraste führen zur Fluchtreaktion
Im Umgang mit Pferden ist außerdem zu beachten, dass diese Helligkeitskontraste wie z.B. Pfützen, Schatten oder Sonnenlicht viel stärker wahrnehmen als Menschen. Hieraus können natürlich plötzliche Fluchtreaktionen resultieren. Weiterhin benötigt das Pferdeauge zwei bis drei Minuten, bis es sich von Helligkeit auf Dunkelheit umgestellt hat. Dies kann zum Beispiel beim Verladen in einen dunklen Pferdetransporter oder beim Anreiten eines Hindernisses im Schatten der Fall sein. Nach der Umstellung des Auges können Pferde allerdings im Dunkeln deutlich mehr erkennen als Menschen.
Gehör wie ein Radar
Die Ohren des Pferdes sind unabhängig voneinander wie ein Radar in alle Richtungen beweglich. Dies ermöglicht dem Pferd die Lokalisierung von Geräuschquellen. Außerdem hört das Pferd in einem viel weiteren Frequenzbereich als der Mensch. So kann es z.B. die Ultraschallwellen von Fledermäusen hören.
Geruchssinn stark ausgeprägt
Neben dem Seh- und Hörsinn ist auch der Geruchssinn des Pferdes stärker ausgeprägt als beim Menschen. Er dient zur Orientierung, zum Erkunden von fremden Objekten und zum sozialen Dialog. Unbekannte und bedrohliche Gerüche, zum Beispiel Schweinegeruch, können das Pferd zur Flucht veranlassen.
Wie ist das nun mit der knisternden Plastiktüte, die am Boden liegt? Für uns Menschen ist sie harmlos. Für Pferde ist es zunächst ein fremdes Objekt, das sich wie ein Raubtier anschleicht, sich sehr schnell bewegt und laute, beängstigende Geräusche macht. Das Gute ist, dass Pferde neugierig sind und so den fremdem Gegenstand mit Hilfe ihres Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn erkunden. Noch besser ist, dass Pferde lernfähig sind und durch Übung schließlich eine Plastiktüte als ungefährlich betrachten. Hierzu kann der Mensch durch sein Verhalten einen wesentlichen Beitrag leisten und den Umgang mit dem Pferd sicherer gestalten.
Verwendete Quellen: Pressemeldung „Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“