ES IST NOCH ZEIT…

Es ist noch Zeit
Foto: Riv Kah

Ich lege meinen Kopf in Deine Hände, denn ich weiß, was kommen wird. Du spürst den warmen, gleichmäßigen Atem meiner Nüstern. Ein vertrautes Gefühl, doch heute ist es anders. Ein letztes Mal lasse ich den Blick schweifen. Ihr seid alle gekommen. „Macht es gut, wir sehen uns drüben“, flüstere ich leise meinen Freunden zu. Meine Augen werden müde, mein Kopf wird schwer. Du weinst. Ich blinzle und blicke verwundert um mich. Sonnenstrahlen wärmen angenehm mein glänzendes Fell, weiche Erde schmiegt sich dicht an meinen Körper. Ein großer Baum spendet Schatten. Er ist übersät mit den herrlichsten, roten Äpfeln. Ich sammle meine Kräfte und stehe schwungvoll auf. „Hallo, da bist Du ja! Wir haben Dich bereits erwartet!“ Alt sieht es aus, sein Rücken gebogen durch die vielen Reiter. Sein Gesicht gezeichnet durch die vielen Trensen. Seine Beine krumm durch die vielen Sprünge. Seine Augen jedoch klar und stolz. „Jeder darf sich aussuchen, wer und wie er hier sein möchte“, sagt es und trabt flott davon. Ich folge seiner Richtung. Es geht bergab und meine Hufe werden schneller und schneller. Mein Herz quillt über vor Freude! Die Umgebung verschwimmt um meine Augen, ich strecke die Nüstern in die Höhe und lasse meine Beine fliegen, so leicht wie der Wind! An einer Flussbiegung komme ich zum Stehen. Ich nehme einen Schluck, das Wasser schmeckt so herrlich frisch und kühl. „Trink und Iss, soviel Du möchtest. Hiervon gibt es reichlich“, sagt es neben mir und verschwand. Ich folge seiner Richtung und erblicke die saftigsten und grünsten Hügel. Meine Nase verschwindet im leckeren Gras, meine Zähne zupfen die süßesten Büschel und … Ich wünsche, Du wärst hier.
Plötzlich stupst mich jemand von hinten an: „Hallo Du! Komm, ich will Dir etwas zeigen!“, sagt es und ich folge. Vor einem großen Tor bleiben wir stehen. „Es ist kein gewöhnliches Tor.“ Hinter schweren Eisenbeschlägen sehe ich Dich weinend auf dem Boden sitzen. Du hältst immer noch meinen Kopf in Deinen Armen. „Immer, wenn ein Pferd zu uns kommt, lässt es eine gebrochene Menschenseele zurück. Aber irgendwann wird sich das Tor für Dich öffnen und davor wird ein Mensch stehen. Es wird Dein Mensch sein, der dich gerade so schmerzlich vermisst“. Ich nicke und nehme mir vor, jeden Tag zum Tor zurückzukehren, um nach Dir zu sehen. Mit dem Wind schicke ich ein sanftes Wiehern auf Reisen. Ich weiß, dass Du es hörst. Du drehst Dich um, ohne mich zu sehen – aber ich bin da. Die Jahre vergehen und Dein Herz wird wieder von Glück beseelt, denn Du hast ein neues Pferd. Doch eines Tages liegt auch dieses auf der warmen Erde unter dem Baum mit den köstlichen Äpfeln. Ich begrüße es und wir schauen seither gemeinsam durch das Tor mit den eisernen Verzierungen zu Dir herab. Bald, ganz bald wird es sich öffnen und Du wirst uns über die Nüstern streichen und unsere Stirn reiben, wie Du es früher so gerne getan hast. Ich kann es schon fühlen…

(Riv Kah)
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