Eine Herde? – Der Offenstall-Irrtum

Der gut geplante Offenstall ist diejenige Haltungsform, die den natürlichen Bedürfnissen des Pferdes am nächsten kommt. Immer mehr Besitzer gelangen zu der Einsicht, dass es nicht nur für ihren Liebling schöner und gesünder ist, sondern mittel- und langfristig auch den eigenen Geldbeutel schont: weniger Tierarztbesuche, weniger sonstige Therapien, und bei der (gekonnten) Barhufpflege weniger bis gar keine Kosten mehr, um nur ein paar wenige Vorteile zu nennen. Ganz zu schweigen von der psychischen Ausgeglichenheit der Pferde.

Merkwürdig dabei ist allerdings die nicht totzukriegende Auffassung, die (mehr oder minder zufällige) Ansammlung von Pferden sei eine „Herde“. Die im Offenstall beobachteten Verhaltensweisen werden emsig interpretiert und passend eingeordnet, und wer die meisten Statements abgibt, ist die ungekrönte Stallkönigin. Meistens handelt es sich dabei lediglich um Ventriloquismus („Bauchrednereffekt“), also die Verkündung der vermeintlichen Bedeutung des Verhaltens stellvertretend im Namen des Pferdes.

Eigentlich wäre das nicht weiter erwähnenswert, und es trägt ja auch nicht unwesentlich zur Unterhaltung und Erheiterung bei, wenn nicht durch Fehlinterpretation und Halbwissen des öfteren Spannungen in der Stallgemeinschaft entstünden. Meistens geht es dabei darum, dass ein Pferd dem anderen etwas angetan hätte oder dass ein Pferd „böse“ sei oder dass ein „rangniedriges“ Pony von den anderen unterdrückt würde. Die Liste ist lang. Nicht selten kommt es mit der Zeit zu offenen Auseinandersetzungen, der Stallfrieden ist gefährdet.

Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Pferde sind und bleiben Pferde! Und weil dem so ist, hat sich Jürgen Grande von MinimalHorsemanship ausführlich Gedanken dazu gemacht und zeigt uns hier ein paar Aspekte auf, die vielleicht weiterhelfen:

DER OFFENSTALL – IRRTUM
by Jürgen Grande (Minimal Horsemanship) 03/2023

„Ich und mein Pferd, wir sind eine Herde“, sagte einst ein guter Bekannter zu mir, der gerade seinen Wallach knuddelte. Ich ließ ihn in seinem Glauben, denn er war damit glücklich und konnte so auch keinen wirklichen Schaden anrichten. Ernsthaftere Betrachtung verdienen dagegen die Verhältnisse im Offenstall, einer Haltungsform, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut und auch von mir als die beste aller Haltungsformen in menschlicher Gefangenschaft angesehen wird. Im Idealfall bietet sie völlige Bewegungsfreiheit, Zugang zu Heu und Wasser, und das alles uneingeschränkt den ganzen Tag. Nach Möglichkeit leben alle beteiligten Tiere in einer einzigen Gruppe. Ohne es genauer zu hinterfragen, wird diese Ansammlung von Pferden sehr häufig automatisch mit dem Etikett “Herde“ versehen. Ich bin da allerdings ganz anderer Auffassung.

Foto: Steve / Pixabay

Wir sollten uns erst einmal damit befassen, was das eigentlich ist. Frei lebende Pferdegemeinschaften (feral horses) sind üblicherweise in echten Herden organisiert. Nutzen und Struktur richten sich nach (evolutions) biologisch sinnvollen Kriterien und sollen folgende Hauptaufgaben erfüllen: Sicherheit, Komfort, weitgehend friedliches Zusammenleben, Nahrung sowie Fortpflanzung via Exogamie.

Um diese Ziele und deren Umsetzung ranken sich unterschiedliche Mythen, die jedoch allesamt in irgendwelche Dominanz/Alpha-Theorien münden. Auf Platz eins der Mythosparade rangiert die Auffassung, es gebe genauso viele Hierarchiestufen in einer Herde, wie sie Mitglieder zählt. (Etliche Trainingsmethoden bauen auf so etwas auf, aber das ist ein anderes Thema.) Die jeweilige Hierarchie werde innerhalb der Herde permanent infrage gestellt, es würden immerwährend Rangeleien und Kämpfe ausgetragen, um an die Spitze zu gelangen, und damit an gewisse Privilegien (Komfort, Nahrung, Sexualpartner). Das stimmt höchstens nur zur Hälfte, und die halbe Wahrheit ist bekanntlich die ganze Lüge.

Die Geschichte der ethologischen Pferdekunde ist mit grotesken Fehlern behaftet. Forschungsgegenstand waren zunächst nicht etwa die Pferde selber, sondern andere Spezies, deren Sozialstruktur dann auf Pferdegruppen projiziert wurde. Dazu gehörten Stallhühner (von daher der gern benutzte Begriff „Hackordnung“) oder auch Wolfsrudel – also Nachfahren der Dinosaurier sowie carnivore Säugetiere als Maßstab für vegetarisch lebende Beutetiere. Auch völlige Laien erkennen hier sofort den falschen Ansatz.

Foto: Steve / Pixabay

Zum Glück wurde echtes Pferdeverhalten in freier Natur seit ungefähr Mitte des letzten Jahrhunderts vermehrt ernsthaft systematisch erforscht (also durch studierte Ethologen und Pferdefachleute). In der Trainerszene gab und gibt es zudem immer wieder Lichtgestalten, die mit den hergebrachten Alphatheorien ordentlich aufräumen oder diese zumindest stark relativieren. Hier eine (unvollständige) Liste von Leuten, deren Ansichten und Veröffentlichungen ich sehr ans Herz legen möchte:

Zunächst sei hier Lucy Rees erwähnt, gebürtige Waliserin, die schon länger in Spanien lebt und dort Kurse in „doma natural“ gibt. Sie hat zwei Bücher veröffentlicht, die man mehrmals durchlesen sollte: das inzwischen schon etwas angestaubte und nicht mehr gänzlich aktuelle “The Horse’s Mind“ und vor allem das neuere “Horses In Company“. Die gelernte Verhaltensforscherin fasst hier ihre jahrzehntelangen, weltweiten Feldstudien zusammen und kommt oft zu verblüffenden Ergebnissen. Wer noch tiefer in die Materie eintauchen möchte, wird im Literaturnachweis ihrer Werke reichlich fündig.

Weitgehend unbeachtet und nur den wirklich Interessierten bekannt ist der Neuseeländer Andy Beck. Er hat über einen sehr langen Zeitraum hinweg ein Experiment durchgeführt, das mit viel Arbeit, Geld und Entbehrungen verbunden war (und nach wie vor ist). Am Anfang stand eine Musterherde (sozusagen die „Herde Null“), die er auf seinem umfangreichen Privatgrund komplett sich selbst überließ. Es entstanden dann auf natürliche Weise und unbeeinflusst die Herden der nächsten Generationen. Beck dokumentierte die Entwicklung akribisch, wertete sie aus und machte sie publik. Seine Broschüre (“Horsonality“) und eine ganze Reihe von Gratis-Artikeln auf seiner Homepage (die inzwischen wohl leider nicht mehr aktiv ist) sind eine wahre Fundgrube.

Auch der Barhufpionier Jaime Jackson hat in seinem Erstlingswerk “The Natural Horse“ seine Beobachtungen bei den Mustangs des Great Basin der USA niedergelegt, die sehr brauchbar sind, wenn auch manchmal durchaus diskussionswürdig. Trotzdem sehr lesenswert.

In Deutschland haben wir mit Marlitt Wendt eine Verhaltensbiologin, die ein paar hochinteressante Beiträge zu Vertrauen, Intelligenz, Fühlen und Denken von Pferden geliefert hat. „Vertrauen statt Dominanz“ ist ein guter Einstieg für Kurzentschlossene.

Deren Schwester im Geiste Imke Spilker brachte vor ein paar Jahren „Selbstbewusste Pferde – Wie Pferde ihre Lektionen selber entwickeln“ heraus. Ein wirklich interessanter Ansatz und eines der schönsten Bücher über Pferde, die ich jemals in Händen hielt.

Zurück in den USA finden wir Joe Camp mit “The Soul of a Horse – Life Lessons From the Herd“. Wenn man bei den kitschigen Passagen ein Auge zudrückt, sehr brauchbar.

Foto: Steve /Pixabay

Wenn es einen Trainer gibt, der am Alpha-Mythos maßgeblich gerüttelt hat, dann ist es Mark Rashid. Sein Konzept des “Passive Leadership“ geht (richtigerweise) davon aus, dass es zwar einen Chef in der Herde geben muss, aber einer, der kompetent ist und die Belange der Herde am besten “verwaltet“. Üblicherweise ist das der Leithengst, der zwar auch mal ordentlich zulangen kann, wenn es nötig ist, aber ansonsten als smarter Kommunikator auftritt, der Konflikten eher vorbeugt als versucht, sie gewaltsam zu lösen.

Rashid hat – nebenbei erwähnt – in den letzten Jahren sein ursprüngliches Konzept ausgebaut mit Prinzipien des Aikido. Das ist eine betont defensive japanische Kampfkunst, die die Energie des Gegners gewissermaßen umleitet und unschädlich macht und ihm gleichzeitig trotz seiner Niederlage die Würde belässt. Auf Pferde übertragen heißt das: Unerwünschtes wird in Erwünschtes umgewandelt, ohne das Pferd zu erniedrigen. Aikido ist aber auch eine geistige Disziplin, die unter anderem zu charakterlicher Selbstbeherrschung und Gelassenheit führen soll – etwas, was so manche Reiter dringend nötig hätten. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema…

Etwas für Leute mit mystischer Ader ist Michael Bevilacqua. Der Kanadier ist oberster Repräsentant der Hohen Schule des Russen Alexander Nevzorov. Seine Texte über Pferde sind meist sehr philosophisch und etwas abgehoben, bereiten aber dennoch sehr viel Vergnügen und bieten viele Denkanstöße. Man findet davon ausreichend zum Download auf seiner Homepage. Zudem gibt es ein Buch von ihm, das auch auf Deutsch zu haben ist: „Freunde fürs Leben – Ehrliche Partnerschaft mit deinem Pferd“*.

Schließlich sein noch Bill Dorrance erwähnt. Er wird gerne verwechselt mit seinem Bruder Tom und gehört definitiv nicht zur „Ahnenreihe“ von Pat Parelli, auch wenn ein paar Elemente seines Trainings ähnlich aussehen. Bill hat in hohem Alter zusammen mit seiner Schülerin Leslie Desmond ein Buch herausgebracht, das man meiner Meinung nach nicht hoch genug einschätzen kann: “True Horsemanship Through Feel“ (inzwischen vergriffen).

Kommen wir aber auf den Ausgangspunkt zurück, den evolutionsbiologischen Nutzen von Verhalten. Zuerst ein paar Bemerkungen zum Thema Evolution. Ohne Charles Darwins Leistung zu schmälern, sollte man heute den Blick auf die Entwicklung des Lebens deutlich erweitern. Darwin war ein Kind seiner Zeit. Er erkannte zwar richtigerweise die „Blindheit“, der die Natur ausgeliefert ist, pochte dabei jedoch zu sehr auf das Recht des Stärkeren, dass also nur der „Tüchtigste“ überleben könne. Das Auslöschen „Untüchtiger“ sei die Triebfeder des biologischen Fortschritts.

Hier erkennen wir den Einfuss des britischen Ökonomen Thomas Malthus. Oft stimmt das sogar. Mutationen, die weit abseits von den aktuell günstigsten Eigenschaften liegen, haben ohnehin kaum eine Chance, aber da braucht es keinen „Stärkeren“, der sie auslöscht, die Sache erledigt sich von selbst.

Seit einiger Zeit, insbesondere mit Aufkommen der sogenannten „Chaostheorie“, hat sich der Blick deutlich verändert und eine Verschiebung Richtung Kooperation (statt Konkurrenz) erfahren. Lebewesen arbeiten tendenziell lieber miteinander, statt sich gegenseitig auszumerzen. Es ist irgendwie „ökonomischer“ und bringt bessere Ergebnisse. Schon bei der Entstehung des Lebens muss es so gewesen sein, wie die Zellstrukturen uns auch heute noch verraten. Und was im kleinen funktioniert, finden wir auch im großen immer wieder, sowohl interspezifisch als auch innerhalb einer Art. Es ist also vielmehr die Rückkopplung von Konkurrenz und Kooperation, was das Leben voranbrachte und -bringt. Gewissermaßen das Yin und Yang der Evolution.

Das Pferd ist eines der Toperfolgsmodelle der Naturgeschichte. Vor 55 Millionen Jahren nahm dessen Karriere seinen Anfang, jedoch erst vor ca. 20 Millionen Jahren wurde es allmählich zum Steppentier und zu dem, was wir heute kennen und weiterzüchten. Domestizierte und wild lebende Pferde sind genetisch so gut wie identisch, da letztere Abkömmlinge der ersteren sind. Die Grundausstattung stimmt überein. Dennoch gibt es Unterschiede. Das Hauspferd ist keinem Evolutionsdruck ausgesetzt und ihm werden zudem oft Eigenschaften angezüchtet, die menschlichen (und nicht natürlichen) Bedürfnissen entsprechen.

„Mangelhafte Exemplare“ (wohlgemerkt nach Logik der freien Natur) hätten nur wenig Chancen, den Anforderungen in der Wildnis zu entsprechen. Die Herdenstruktur der frei lebenden Pferde ist diesen Anforderungen dagegen vorbildlich angepasst und sieht im Kern folgendermaßen aus:

Exogamie ist einer der Schlüssel für eine gesunde Pferdeherde. Inzucht dagegen fördert Missbildungen und Verhaltensstörungen, die das betroffene Individuum oder gar die ganze Gruppe gefährden können. Damit das so gut wie ausgeschlossen ist, gibt es gleich zwei Hauptarten von Herden: der Familienverband (“family band“) und der Junggesellenverband (“bachelor group“).

Der Familienverband besteht üblicherweise aus einem einzigen Hengst (oft als Leithengst bezeichnet), der eine begrenzte Anzahl Stuten um sich hat, wovon meistens eine die Favoritin ist. Während Hengste öfter mal wechseln können, ist die Mutterstutengruppe innerhalb derselben Herde weitgehend konstant. Sogar die „Rang“ordnung wird an die Stutfohlen sozusagen weitervererbt. Das erspart unnötige, kraftzehrende Kämpfe, die zudem auch zu Verletzungen führen können. Energievergeudung und schwere Verletzungen zählen zu den pferdischen Topsünden. Das ist ein Grundprinzip, denn oft ist Nahrung knapp und ein geschwächtes Tier ist Räubern weitaus mehr ausgeliefert.

Doch zurück zur Familie. Ungefähr im Alter von 30 Monaten muss der Nachwuchs die elterliche Herde verlassen. Junghengste schließen sich Junggesellenverbänden an. Jungstuten dagegen bleiben normalerweise nicht lange allein, da sie entweder in andere Familienverbände integriert, oder (noch häufger) vom Anführer eines Junghengsteverbandes gekapert werden, der somit eine neue Familie gründet. Reine Stutenherden, die für längere Zeit zusammenbleiben, gibt es in der Regel nicht, außer es herrscht gerade Hengstmangel.

Das reicht üblicherweise aus, um Exogamie zu garantieren. Inzucht aus Versehen ist weitestgehend ausgeschlossen, weil sich Pferde vornehmlich am Geruch wiedererkennen und die Fortpflanzung unter näheren Verwandten vermieden wird.

Ein weiterer Schlüssel für eine gesunde Herde ist der Leithengst.

Einige Ethologen gehen davon aus, dass in Wirklichkeit eine Leitstute die führende Rolle habe. Ich selber denke, dass es in jeder Herde sozusagen eine „Grande Dame“ gibt, mehr nicht. Lucy Rees bezeichnet die Existenz von Leitstuten sogar als einen Mythos. Wie auch immer, ich halte den Primat des Leithengstes für wahrscheinlicher und sinnvoller, denn dieser ist erstens körperlich überlegen (was bei einigen Situationen durchaus von Vorteil ist), und zweitens sind Stuten regelmäßig trächtig oder kümmern sich gerade um den Nachwuchs, sind also anderweitig „beschäftigt“, als sich mit Fressfeinden rumzuprügeln oder Konflikte mit Nachbarherden zu lösen.

Bei Mark Rashid ist schon angeklungen, was einen guten Leithengst ausmacht. Nicht derjenige wird seine Familie gut durchbringen (und damit auch seine Spezies), der ein unzuverlässiger, streitbarer und egoistischer Depp ist. Vielmehr sind Aufmerksamkeit, Klugheit, Disziplin und vor allem Diplomatie gefragt. Ein guter Leithengst ist immer ein guter Kommunikator, ob es um die eigene Familie oder um die in der Nachbarschaft geht, die im selben Lebensraum (“homerange“) lebt.

Er wird junge Ausreißer zurückholen, eventuelle Streitigkeiten schlichten (meist beim Nachwuchs), nach Gefahren Ausschau halten und rivalisierende Hengste davon abhalten, Stuten aus der eigene Herde zu entführen. Bei letzterem kann es ausnahmsweise auch mal heftig werden, und es kommt dann zu jenen spektakulären Kämpfen, die immer gerne als Beweis dafür herhalten müssen, dass Pferde angeblich den lieben langen Tag ihre Rangordnung verteidigen.

Foto: Steve / Pixabay

Sicherlich kommt es dabei auch zu Verletzungen, aber es geht nicht um Leben und Tod, denn es macht evolutionsbiologisch keinen Sinn, wenn sich die Hengste andauernd selber dezimieren. Solche Auseinandersetzungen sind daher üblicherweise sogenannte „Kommentkämpfe“, also weitgehend ritualisiert. Hengste benachbarter Familien belassen es oft sogar beim sogenannten „Dunghaufen-Ritual“, bei dem sie abwechselnd an der selben Stelle übereinander kacken, sich dabei abschätzen, meistens ohne Streit wieder trennen und mit ihren Familien friedlich die gemeinsamen Futtergründe teilen.

Der Leithengst ist übrigens nicht der alleinige Auslöser von Flucht. Jedes Tier in der Herde nimmt seine Umgebung aufmerksam wahr, und es kann wohl auch einmal passieren, dass sogar ein Jungtier den „Startschuss“ gibt. Es liegt dann am Leithengst oder einem anderen erfahrenen Erwachsenen, ob die Sache wieder abgeblasen wird, falls es Fehlalarm war.

Manchmal ist das Aufkommen von Pferden riesig, hunderte oder gar tausende Individuen scheinen eine einzige, unüberschaubare Herde zu bilden. Bei genauerem Hinsehen wird man jedoch erkennen, dass es sich nach wie vor um die beiden Herdentypen handelt, die sich lediglich zu einem Herdenverband zusammengeschlossen haben. In üppigen oder nicht ganz so kargen Gegenden kann das durchaus vorkommen. Die oben beschriebenen Mechanismen des Zusammenlebens bleiben aber trotzdem wirksam.

Entspricht das alles auch der Situation in Offenställen? – Offensichtlich nicht. Auch wenn die Gefangenschaft noch so komfortabel ist, so bleibt sie eine komprimierte Situation. Offenstall ist keine Prärie. Es geht schon los, dass die Pferde sich anfangs untereinander fremd sind, es fehlt üblicherweise der Familienzusammenhang. Die Gruppe ist zufällig zusammengewürfelt, so wie die jeweiligen Besitzer gerade eintrudeln. Freilich wird ein umsichtiger Stallinhaber sich Pferd und Eigentümer genau anschauen, ob sie in die gegenwärtige Struktur passen, aber man ist vor Überraschungen nie sicher, und so manches „brave Hascherl“ hat sich als Furie entpuppt.

Viele Pferde (mehr als die meisten denken) sind durch erlerntes asoziales Verhalten vorbelastet, das allerdings so gut wie immer auf menschliche Fehler zurückzuführen ist, wie schlechte Haltung, fehlender Pferdeverstand, Brutalität, hoher Inzuchtfaktor etc. Oft können solche Pferde das Verhalten anderer nicht richtig einschätzen und prügeln gerne, auch bei nichtigem oder gar keinem Anlass.

Pferde wachsen in verschiedenen Kulturen auf. Ihre gemeinsame Grundsprache ist in zahlreiche „Dialekte“ aufgespalten, vergleichbar unserem Englischen. Das kann durchaus zu Missverständnissen unter ihnen führen. Außerdem schätzen Pferde oft falsch ein, wie hoch oder niedrig die Schwelle einer Mitteilung angesetzt werden soll. Das eine Pferd ignoriert offensichtliche Warnzeichen, während das andere überreagiert und ausflippt, obwohl die Zeichengebung des Artgenossen eher dezent ist. Dieses Verständigungsdefizit wird übrigens auch von den Besitzern gerne übersehen oder missinterpretiert. Und nicht zu vergessen: Es gibt üblicherweise (aus nachvollziehbaren Gründen) keinen Hengst im gemischten Offenstall. Damit entfällt auch der entscheidende Ordnungsfaktor in sexueller und organisatorischer Hinsicht.

Wallache sind als Hengstersatz nur „B-Ware“ und es gibt sie oft im Überangebot. All das führt zu einer Ansammlung von Pferden, die sich im günstigsten Fall mit der Zeit buchstäblich „zusammenrauft“ und eine Kultur des Nichtangriffspaktes entwickelt. Im Normalfall ist es aber viel zu oft ein Ort ständigen Terrors und kleinlicher Auseinandersetzungen. Die gleichwohl nach wie vor vorhandenen natürlichen Verhaltensweisen sind oft grotesk verzerrt und entstellt. Ein paar Rabauken (das sind dann angeblich die „Alphas“) übernehmen scheinbar das Ruder, und der Rest (die „Rangniederen“) versucht diesen auszuweichen, so gut es geht. In der Natur wäre das fatal.

Das wird dennoch von den meisten Pferdeleuten als Beweis für die jeweilig favorisierte Dominanztheorie herangezogen. Die beliebteste ist, wie bereits erwähnt, die Lineartheorie, nach der es so viele „Ränge“ gebe wie Pferde in der Gruppe. Eine andere, oft gehörte Variante ist der / die „Herdenchef(in)“. Hier fehlt aber der natürliche Zusammenhang des Familienverbandes. In Wirklichkeit gibt hier lediglich der Oberrabauke meistens den Ton an.

Offenställe sind in oft genug sozusagen verzerrte „Parallel-Universen“ des natürlichen Pferdezusammenseins. Zufallsgruppen von Pferden, die in Offenställen leben, als Herden zu bezeichnen, geht weit an der Natur des Pferdes vorbei. Mir fällt hier ein viel passenderes Wort dazu ein: Horden.

Doch wozu diese ganze Diskussion?

Ein weitverbreitetes Problem ist, wie so häufig, der menschliche Part. Stalldynamik ist ein unberechenbar wucherndes und oft herbes Kraut. Aus nichtigen Anlässen können unterschwellige Antipathien, Zank bis hin zu Kleinkriegen entstehen, und es sind meist dieselben Reizthemen.

Ein Dauerbrenner im Offenstall ist „böse“ gegen „brave“ Pferde. Allein diese Attribute sind Nonsens, da kein Tier dieser Welt „böse“ oder „nicht böse“ im moralischen Sinn sein kann. Das sind, wenn überhaupt, rein menschliche Projektionen. Ein Pferd kann höchstens „verhaltensauffällig“ oder „nicht verhaltensauffällig“ sein, wobei letzteres nicht unbedingt bedeuten muss, dass das entsprechende Pferd psychisch gesund sei. Die Qualität pferdischer
Eigenschaften liegt sowieso in den Augen des Betrachters, und da sind die Ansichten aus diversen Gründen breit gestreut und sie treffen meistens nicht wirklich den Kern.

Pferde sind und bleiben Pferde, mitsamt ihrer verhaltensbiologischen Ausstattung, die ihnen die Natur mitgab. Das gilt auch für „Hauspferde“ in der verschrobenen Situation gemeinschaftlicher Gefangenschaft. Bei zu viel Zoff lässt sich hier wohl die Situation nur durch Aufteilung in passende Gruppen entschärfen. Aber ist das dann noch ein richtiger Offenstall? Schuldzuweisungen sind unnütz und Gift. Wer mit dem ganzen ein Problem hat, sollte sich nach einer anderen Unterbringung umschauen…


© Jürgen Grande
Last update: 03/2023
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