Feldenkrais für Reiter

Damit unser Pferd trotz der unnatürlichen Nutzung als Reittier langfristig gesund bleibt, bedarf es auf jeden Fall einer korrekten Gymnastizierung. Daher gewähren wir ihm in der Regel eine gute Ausbildung, sorgen darüber hinaus für eine artgerechte Haltung und Fütterung, eine passende Ausrüstung sowie regelmäßig jegliche Art von Therapie und Behandlung wie z.B. Hufbearbeitung oder Zahnkontrolle. Was aber tun wir Reiter für unseren Körper, mit dem wir unser Pferd ja regelmäßig konfrontieren?

Als Reiter tragen wir eine große Verantwortung, denn unseren menschlichen Körper lassen wir nicht nur von einem anderen Lebewesen tragen, sondern wirken darüber hinaus auch noch auf dieses ein. Alles, was wir an Verspannungen, Schiefen, Stimmungen u.s.w. mitbringen, übertragen wir auch auf unser Pferd. Dazu kommen Bewegungsmuster, die sich jeder Mensch im Laufe der Zeit angewöhnt hat. Meistens sind uns diese gar nicht bewusst, so dass wir auch hier als Reiter bestimmte Haltungen und Bewegungen immer wieder auf das Pferd übertragen, ohne es zu merken.

Wenn dies über einen längeren Zeitraum geschieht, übernimmt das Pferd diese Eindrücke. Das macht sich besonders deutlich beim Sattel bemerkbar, der vielleicht regelmäßig an einer Seite mehr aufgepolstert werden muss, als an der anderen. Auch zeigen sich muskuläre Asymmetrien beim Pferd oder der Osteopath löst jedes Mal aufs Neue dieselbe Blockade. Machen wir uns also bewusst, dass wir mit unserem Sitz immer auf unser Pferd einwirken! Wer sich nun ein losgelassenes Pferd wünscht, der muss also erst einmal selbst losgelassen sein. Somit bin ich als Reiter immer in der Pflicht, an meinem Sitz zu arbeiten, und dabei kann Feldenkrais eine große Hilfe sein.

Was ist Feldenkrais und wie kann ich es erlernen?

Als zertifizierte Feldenkrais-und-Pferde-Practitionerin hat Julia Sandmann in der einzigartigen Verbindung von Feldenkrais und der akademischen Reitkunst ein ganzheitliches Bewegungskonzept für Reiter und auch ihre Pferde entwickelt und kann uns so auf vielfältige Weise behilflich sein. Sie selbst klagte auf Grund einer Skoliose immer wieder über Rückenschmerzen und suchte seinerzeit nach einem Weg, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. In einem Kurs mit Anke Recktenwald lernte sie die Feldenkraismethode kennen und schätzen. Eine fundierte Ausbildung zum Feldenkrais-und-Pferde-Practitioner eröffnete ihr dann völlig neue Möglichkeiten und Sichtweisen, um ihre Rückenschmerzen durch Feldenkraislektionen selbständig zu beheben. Da Julia dieses Wissen mittlerweile auch in Kursen und Seminaren an Reiter weitergibt, kann Sie uns einiges zu Feldenkrais erzählen:

Das beginnt schon bei der Losgelassenheit im Körper, wie kann ich diese erreichen? Nun, zahlreiche Muskeln wie z.B. die tiefe Rumpfmuskulatur unterliegen nicht einmal unserem willentlichen Einfluss. Diese aktiv zu entspannen, fällt also entsprechend schwer oder es erscheint gar unmöglich. In einer Feldenkraislektion, die im Liegen, Sitzen, Stehen oder auf dem Pferd ausgeführt werden kann, geschieht nun Folgendes: Zunächst nehme ich meinen Körper bewußt war und entdecke Verspannungen, aber auch losgelassene Körperteile. Der Feldenkrais-Practitioner gibt dann Anweisungen, wie bestimmte Bewegungen auszuführen sind. Diese sind klein, leicht und fließend, jederzeit anhalt- und umkehrbar, ungewohnt aber nicht anstrengend. Letzteres ist von besonderer Bedeutung, denn sobald ich mich anstrenge, verspannen sich meine Muskeln wieder. Hier hilft die Vorstellung, nur das Skelett zu bewegen.

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Auf Grund unserer Sozialisierung sind wir es gewohnt, dass wir uns anstrengen müssen, wenn wir etwas erreichen wollen. Daher ist Feldenkrais für viele erst einmal eine gänzlich neue Erfahrung. Auf dem Pferde ist Anstrengung kontraproduktiv – wie soll ein Pferd sich schließlich frei bewegen, wenn der Reiter mit den Schenkeln klemmt, fest im Becken ist, weil er die Gesäßmuskeln anspannt oder gar mit dem Becken schiebt? Das Pferd reagiert auf jede noch so kleine Bewegung auf seinem Rücken. Anfangs wird es versuchen, zu interpretieren, was diese oder jene Information, die vom Reiter kommt, wohl bedeutet. Im Laufe der Zeit aber wird es lernen, nicht darauf zu reagieren, es „stumpft ab“, wie man so schön sagt. Ein guter Reiter ist somit nicht der, der am meisten einwirkt, sondern der, der am wenigsten stört.

Feldenkrais lehrt uns, differenzierte Bewegungen auszuführen und verbessert darüber hinaus unsere Wahrnehmung von Bewegung und bewegt werden. Für Stensbeck war eine „tätige Losgelassenheit“ wichtig, Bent Branderup sprach in einem seiner Vorträge vom „richtigen Nichtstun“. Weder in „normalen“ Reitstunden noch durch ein gutes Lehrbuch läßt sich das Fühlen lernen, denn der Reiter sollte schon verstehen, was er unter sich oder von sich selbst wahrnimmt. Dazu wirft man am Besten einen Blick in die Anatomie:

Das menschliche Becken als größte knöcherne Struktur des menschlichen Körpers hat mit den kufenförmigen Gesäßknochen dauerhaften Kontakt zum Pferderücken, es sei denn, man reitet ausschließlich im Entlastungssitz. Um während der Bewegung des Pferdes jederzeit auf Gleichgewichtsveränderungen reagieren zu können, sollte sich das Becken idealerweise in der neutralen Position befinden. Aus dieser heraus kann es sich maximal in die ihm zu Verfügung stehenden Bewegungsrichtungen bewegen, d.h. nach vorn und zurück, rechts und links sowie oben und unten. Sitzt man losgelassen, bewegt sich das Becken, ausgelöst durch die Bewegung des Pferdes, bereits ganz von allein in diese Richtungen, und zwar in folgender Kombination:

Fußt z.B. im Schritt das linke Hinterbein ab, senkt sich der linke Gesäßknochen, das Becken bewegt sich nach links-unten-vorn, während die rechte Beckenseite sich nach rechts-oben-hinten bewegt. So entsteht die Dreidimensionalität der Pferdebewegung, die nahezu identisch ist mit dem menschlichen aufrechten Gang. Bei den meisten Reitern sieht man nur die Vor-zurück-Bewegung, die Bewusstheit für die vier anderen Bewegungsrichtungen ist aber häufig verloren gegangen im Versuch, das Pferd möglichst kraftvoll vorwärts zu reiten. In einem solchen Fall leitet der Feldenkrais-Practitioner dazu an, die entsprechenden fehlenden Beckenbewegungen auszuführen und anschließend in das Sich-bewegen-lassen hinein zu spüren. Der Reiter erweitert, bildlich ausgedrückt, sein Bewegungsvokabular. Er erhält Bewegungsalternativen, lernt, sich differenzierter zu bewegen und ist so in der Lage, sich dem Pferd präziser mitzuteilen.

Um zu verstehen, wie Feldenkrais nun funktioniert, muss man einen Blick ins menschliche Gehirn werfen. Auf der Hirnrinde (Cortex) befindet sich der sensomotorische Bereich, der wiederum in zwei Bereiche gegliedert werden kann: dem sensorischen Bereich, in dem Sinneseindrücke verarbeitet werden, und dem motorischen Bereich, dessen Zuständigkeitsbereich die Bewegung ist. In Letzterem kann mittels bildgebender Verfahren dem Gehirn bei der Arbeit zugesehen werden: führt man mit einem oder mehreren Körperteilen eine bestimmte Bewegung aus, so leuchten die Areale im Cortex auf, die für die entsprechenden Körperteile zuständig sind. So können auf dem Cortex bestimmte Areale bestimmten Körperteilen zugeordnet werden, wodurch man eine sogenannte somatotope Karte erhält, auf der der menschliche Körper gemäß seiner Nutzung auf der Hirnrinde sichtbar wird. Diese leicht verzerrte Darstellung unseres Körpers nennt man Homunkulus.

Während man früher glaubte, dass dieser in seiner Form unveränderlich sei, weiß man heute, dass durch den abwechslungsreichen Gebrauch des Körpers der Homunkulus verändert werden kann. Die Körperteile, die wir oft bewegen, stellen sich größer dar als die, die wir selten bis gar nicht bewegen. Wenn wir nun in Feldenkraislektionen ungewohnte Bewegungen ausführen, erhält unser Gehirn über das Nervensystem neue Impulse und es bilden sich neuronale Verknüpfungen, die vorher nicht existierten. Wer Feldenkrais praktiziert, macht nicht nur seinen Körper beweglicher, sondern auch sein Gehirn! Auf diese Weise erhalten wir Bewegungs- und Handlungsalternativen.

Da eine Bewegung auf mindestens drei unterschiedliche Arten ausgeführt werden kann, erhält der Reiter Alternativen, wie er seine Hilfen geben und sich seinem Pferd mitteilen kann. Wenn es auf die eine Art nicht funktioniert, kann er nunmehr auch anders versuchen. Er erhält Bewusstheit über seine Bewegungsmuster und kann diese jetzt verlassen und durch mehr und andere Bewegungen bereichern. Bent Branderup sagt in seinen Vorträgen: „Nur eine Hilfe, die hilft, ist auch eine Hilfe!“. Kommt die Hilfe nicht an, hat der Reiter sie nicht richtig vermitteln können. Das durch Feldenkrais erweiterte Bewegungsspektrum ermöglicht ihm nun, seine Hilfen fein abgestimmt zu geben, so dass sein Pferd ihn versteht. Hier kann mein Gespräch mit dem Pferd dann immer leiser werden, bis die Hilfen unsichtbar werden, so entfaltet sich die wahre Kunst!

Kleine Bewegung, große Wirkung!

Die Feldenkrais-Methode verändert Bewegungsabläufe und teilt diese in kleine Bewegungen auf. Warum ist das so? Am besten läßt sich dies an Hand des aus der Physik stammenden Weber-Fechner-Gesetzes erläutern. Dieses besagt sinngemäß, dass der Reiz um 2 – 3% ansteigen muss, um einen Unterschied in der sensorischen Wahrnehmung zu bemerken. Wenn man das z.B. auf die Wahrnehmung von Gewichtsunterschieden bezieht, muss eine Masse von 50g um 1g schwerer werden, damit der Gewichtsunterschied bemerkt werden kann. Je schwerer also die Masse wird, desto größer muss die Differenz werden. Bei einem Gewicht von 5000g muss die Masse also um 100g schwerer sein.

Übertragen auf das Reiten bedeutet das im Klartext, dass ein Pferd durch übermäßige Krafteinwirkung seitens des Reiters abstumpft, da ja die Kraftaufwendung jedes Mal um 2 – 3% anwachsen muss, damit das Pferd eine Differenz in der Hilfengebung überhaupt wahrnehmen kann. Dies generiert eine Endlosspirale des Kraftaufwands, die damit endet, dass das Pferd lernt, Hilfen zu ignorieren. Entsprechend beginnt der Reiter, mit Sporen und/oder schärferen Gebissen aufzurüsten, im schlimmsten Fall kommt jegliche Kommunikation zwischen Reiter und Pferd zum erliegen. Minimaler bis überhaupt kein Kraftaufwand erfordert, um eine Differenzierung in der Wahrnehmung hervorzurufen, aber nur eine minimale Steigerung. Dem gemäß erhalte ich mir ein sensibles Pferd, welches gelernt hat, meinen Hilfen zu folgen.

Feldenkrais

Auch viele herkömmliche Sitzschulungen an der Longe auf dem Zirkel können den Reitersitz nicht wirklich verbessern, da die Zentrifugalkraft dabei konstant auf den Reiter einwirkt und das Nervensystem ständig damit beschäftigt ist, dies zu kompensieren. Außerdem müsste der Reiter sich auf dem Zirkel dauerhaft im Drehsitz befinden, der bereits ein Thema für sich darstellt. Die sogenannten Sitzfehler werden zudem meist dort korrigiert, wo sie sichtbar werden, aber nicht da, wo sie entstehen. Wackelt z.B. ein Reiter mit dem Kopf vor und zurück – besonders ausgeprägt zeigt sich dies im Trab – so wird ihm die Anweisung, er möge seinen Kopf still halten, nicht weiter helfen. Meist ist ihm nämlich gar nicht bewusst, was er da tut oder wie er diese unerwünschte Bewegung abstellen soll.

Das Kopfwackeln ist eine sog. parasitäre Bewegung, die immer dann entsteht, wenn der Bewegungsfluss an einer Stelle aufgehalten wird. In diesem Falle findt sich die Ursache im Hüftgelenk, Becken oder entlang der Wirbelsäule. Hier gibt es Verspannungen oder Blockaden, an denen die Bewegung gestoppt wird – der Reiter ist nicht durchlässig. Die Bewegungsenergie sucht sich ein Ventil, und so wird sie sichtbar in unruhigen Schenkeln oder Händen oder wie oben beschrieben in einem wackelnden Kopf. Feldenkrais löst diese Verspannungen, so dass die Bewegungsenergie wieder ungehindert fließen kann. Heißt das nun im Umkehrschluss, dass wir lieber nicht reiten sollen, um unserem Pferd nicht zu schaden? Die klare Antwort ist „Nein!“, aber auf das „Wie?“ kommt es an!

Mehr über die Gastautorin Julia Sandmann

Als studierte und praktizierende Lehrerin für Fremdsprachen lebt Julia Sandmann mit ihrem Mann, zwei Söhnen und ihren sechs Pferden in einem beschaulichen Dorf am Rande des Münsterlandes. Ihre Pferde leben dort in artgerechter Haltung im Winter im Offenstall und in den Sommermonaten auf der Weide. Julia selbst hat außerdem eine Feldenkrais-und-Pferde-Practitioner Ausbildung bei Sigrun Kühn absolviert und gibt dieses Wissen in Kursen und Seminaren an Reiter weiter. Wer mehr über Feldenkrais oder Julia Sandmann wissen möchte, findet dies auf ihrer Website Glück-S-Bringer.

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